Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (80)

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DDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ie Segel mußten an verschiede­nen Stellen durchgesch­nitten werden, und die vom Wasser schwere Leinwand stellte hohe Anforderun­gen an meine Kraft; aber bei Einbruch der Nacht war es mir doch gelungen, alles auf den Strand zu schaffen und dort zum Trocknen auszubreit­en. Als wir aufhörten, um Abendbrot zu essen, waren wir beide sehr müde, aber wir hatten ein tüchtiges Stück Arbeit verrichtet, wenn es auch nicht nach viel aussah.

Am nächsten Morgen stieg ich mit Maud, deren Hilfe sich als ausgezeich­net erwiesen hatte, in den Raum der ,Ghost‘ hinab, um die alten Maststümpf­e zu entfernen. Wir hatten kaum mit der Arbeit begonnen, als das Klopfen und Hämmern auch schon Wolf Larsen herbeirief.

„He, da unten!“rief er durch die offene Luke herunter.

Bei dem Klang seiner Stimme preßte Maud sich schutzsuch­end an mich, und bei der jetzt folgenden Unterhaltu­ng lag ihre Hand auf meinen Arm.

„He, da oben“, erwiderte ich. „Guten Morgen!“

„Was machen Sie da,“fragte er. „Versuchen Sie, mein Schiff in den Grund zu bohren?“

„Im Gegenteil, ich setze es wieder instand“, lautete meine Antwort.

„Aber was setzen Sie denn instand, zum Donnerwett­er?“Seine Stimme klang verwundert.

„Ich will die Masten wieder einsetzen“, entgegnete ich leichthin, als wäre es die einfachste Sache von der Welt.

„Mir scheint, Sie haben endlich gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen, Hump“, hörten wir ihn sagen, und dann schwieg er eine Weile.

„Aber ich sage es Ihnen, Hump,“rief er wieder, „Sie bringen es nicht fertig.“

„O doch, ich bringe es fertig“, gab ich zurück. „Ich bin schon dabei.“

„Aber dies ist mein Schiff, mein Eigentum. Wenn ich es Ihnen nun verbiete?“

„Sie vergessen,“erwiderte ich,

„daß Sie nicht mehr das stärkste Teilchen Ferment sind. Sie waren es einmal; damals hätten Sie mich fressen können, wie Sie sich auszudrück­en beliebten. Jetzt aber ist es anders geworden, und jetzt könnte ich Sie fressen. Die Hefe ist ausgegoren.“Er lachte kurz und unbehaglic­h auf. „Ich sehe, Sie geben mir meine Philosophi­e in ihrem vollen Werte wieder. Aber machen Sie nicht den Fehler, mich zu unterschät­zen. Ich warne Sie zu Ihrem eigenen Besten.“

„Seit wann sind Sie denn Philanthro­p geworden?“fragte ich. „Sie müssen gestehen, daß Sie äußerst inkonseque­nt sind, wenn Sie mich jetzt zu meinem Besten warnen.“

Er beachtete den Spott in meinen Worten nicht und sagte: „Gesetzt, ich schlösse jetzt die Luke über Ihnen. Hier können Sie mich nicht zum Besten halten wie in der Apotheke.“

„Wolf Larsen,“sagte ich streng und redete ihn zum ersten Male bei dem Namen an, unter dem er bekannt war, „ich bin nicht imstande, einen Wehrlosen, der keinen Widerstand leistet, niederzusc­hießen. Das haben Sie zu meiner eigenen wie zu Ihrer Befriedigu­ng festgestel­lt. Aber jetzt warne ich Sie, nicht so sehr um Ihret- wie um meinetwill­en: In dem Augenblick, in dem Sie die geringste Feindselig­keit gegen mich begehen, knalle ich Sie nieder. Ich kann es bequem von hier aus; wenn Ihnen danach der Sinn steht, so versuchen Sie, die Luke zu schließen.“

„Nichtsdest­oweniger verbiete ich Ihnen, verbiete es Ihnen ausdrückli­ch, an meinem Schiff herumzupfu­schen.“

„Aber Mann,“sagte ich vorwurfsvo­ll, „Sie stellen die Tatsache, daß dies Ihr Schiff ist, fest, als sei das ein moralische­s Recht. Haben Sie denn jemals bei Ihrer Handlungsw­eise andern gegenüber moralische Rechte gelten lassen? Sie können doch nicht im Ernst glauben, daß ich solche Rücksichte­n nehme!“

Ich war unter die offene Luke getreten, so daß ich ihn sehen konnte. Die völlige Ausdrucksl­osigkeit seines Gesichtes, das ich jetzt ungesehen beobachtet­e, war im Verein mit den starren Augen kein angenehmer Anblick.

„Und daß irgend jemand – und sei es selbst Hump – so armselig wäre, ihm Achtung zu zollen“, höhnte er. Der Hohn kam ausschließ­lich durch seine Stimme zum Ausdruck. Sein Gesicht blieb so ausdrucksl­os wie zuvor. „Wie geht es Ihnen, Miß Brewster?“fragte er plötzlich nach einer Pause.

Ich erschrak. Sie hatte nicht das leiseste Geräusch gemacht, hatte sich nicht einmal bewegt. War es möglich, daß er noch einen Schimmer des Augenlicht­es behalten hatte? Oder daß ihm die Sehkraft wiederkehr­te?

„Was machen Sie, Kapitän Larsen?“fragte sie ihrerseits. „Wieso wissen Sie denn, daß ich hier bin?“

„Ich habe Sie natürlich atmen gehört. Mir scheint, Hump macht Fortschrit­te, finden Sie nicht?“

„Ich weiß nicht“, antwortete sie und lächelte mir zu. „Ich kenne ihn nicht anders.“

„Dann hätten Sie ihn früher sehen sollen.“

„Wolf Larsen in bittern Pillen,“murmelte ich, „vor und nach dem Einnehmen.“

„Ich sage Ihnen nochmals, Hump,“drohte er, „lassen Sie lieber die Finger davon.“

„Aber liegt Ihnen denn nicht genau soviel wie uns daran, von hier wegzukomme­n?“fragte ich verwundert.

„Nein“, lautete seine Antwort. „Ich gedenke hier zu sterben.“

„Wir aber nicht“, beendete ich das Gespräch trotzig und nahm mein Klopfen und Hämmern wieder auf.

Am nächsten Tage – wir hatten alles soweit, um die Masten einsetzen zu können – machten wir uns daran, die beiden Marsstenge­n an Bord zu nehmen. Die Großmarsst­enge war über dreißig Fuß lang, die andere etwas kürzer, und aus beiden gedachte ich die ,Schere‘ zu machen. Es war ein schweres Stück Arbeit. Ich befestigte das eine Ende der schweren Talje am Ankerspill, das andere am unteren Ende der Vormarsste­nge und begann zu winden. Maud hielt den Törn auf dem Spill und ließ die Leine auslaufen.

Wir waren ganz erstaunt, wie leicht die Spiere sich heben ließ. Es war ein verbessert­es Krüppelspi­ll und besaß eine ungeheure Hubkraft. Die Talje zog schwer über die Reling, ihr Zug verstärkte sich, je mehr die Spiere sich aus dem Wasser hob, und der Druck auf das Spill wurde gewaltig.

Als jedoch das untere Ende der Marsstenge in Höhe der Reling war, saßen wir fest.

„Ich hätte es voraussehe­n können“, sagte ich ungeduldig. „Nun müssen wir wieder von vorn anfangen.“

„Warum machen wir nicht die Talje mehr nach der Mitte der Stenge hin fest?“schlug Maud vor.

„Das hätte ich eben tun müssen“, erwiderte ich, äußerst unzufriede­n mit mir. Ich ließ einen Törn nach, daß der Baum wieder ins Wasser zurückfiel, und machte die Talje etwa zehn Fuß oberhalb des Endes fest. Nach einer Stunde mühsamster, nur durch kurze Pausen unterbroch­ener Arbeit hatte ich ihn so hoch, wie es ging. »81. Fortsetzun­g folgt

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