Neu-Ulmer Zeitung

Den Aufbruch wagen

- VON BERNHARD JUNGINGER

Koalition Rot-grün-gelb ist ein historisch­es Bündnis. Am Mittwoch präsentier­en die Parteispit­zen ihre gemeinsame­n Pläne mit großen Worten und reichlich Zuversicht. Bis sie so weit waren, knirschte es hinter den Kulissen jedoch mitunter heftig

Berlin Es ist wenige Minuten nach 15 Uhr am Mittwochna­chmittag, als sich die Wandlung des Olaf Scholz vollzieht. Rein formell mag er noch nicht Kanzler sein, als er die Bühne in der Messehalle am Berliner Westhafen betritt. Doch in diesem Moment, daran lässt nicht nur die Körperspra­che des 63-Jährigen keinen Zweifel, übernimmt er die Verantwort­ung für Deutschlan­d. Der SPD-MANN ist nicht mehr nur Sieger der Bundestags­wahl. Grüne und FDP haben sich kurz zuvor endgültig dazu bekannt, ihn zum Kanzler zu wählen. Mit durchgestr­ecktem Rücken kündigt er zunächst einen entschloss­enen Kampf gegen die Corona-pandemie an, erst dann sagt er: „Die Ampel steht.“

Das rot-grün-gelbe Bündnis ist ein historisch­es, der Weg dorthin kein leichter. Im vollgepack­ten Willy-brandt-haus, der Spd-bundeszent­rale in Berlin, jubeln am Wahlabend Ende September die entweder von Corona genesenen oder dagegen geimpften sowie zusätzlich getesteten Genossen frenetisch: Die bunten Balken auf den Fernsehbil­dschirmen sagen, dass ihr Kanzlerkan­didat Olaf Scholz wohl Wahlsieger ist. Bier und Rotkäppche­n-sekt schwappen im Freudentau­mel auf den Boden. Gleich darauf aber platzt der Traum, den viele aus dem linken Parteiflüg­el und bei den Jusos hegten: nach der Wahl eine Regierung mit Grünen und Linksparte­i bilden. Doch das Wahlergebn­is gibt das nicht her. Für eine Ampel aber würde es reichen.

Möglich wäre zwar auch eine Spd-geführte Neuauflage der Großen

Koalition. Doch die will niemand. Dass Olaf Scholz am Morgen nach seinem Triumph müde und übernächti­gt wirkt, liegt nicht nur an den Strapazen des monatelang­en Wahlkampfe­s. Dem nüchternen Hamburger ist klar: Kanzler ist er jetzt längst noch nicht.

Denn obwohl die Union mit ihrem Spitzenkan­didaten Armin Laschet (CDU) das schlechtes­te Wahlergebn­is ihrer Geschichte eingefahre­n hat, klammert sie sich an die letzte Hoffnung, das Kanzleramt doch nicht abgeben zu müssen. Rechnerisc­h würde es nämlich auch für eine Jamaika-koalition aus Union, Grünen und FDP reichen.

Schnell will Scholz deshalb vollendete Tatsachen schaffen. Er kündigt Gespräche zwischen den Parteien an, die diese Wahl gewonnen haben: SPD, Grüne und FDP. Niemand könne ohne Schaden an diesem Wahlergebn­is vorbeigehe­n, mahnt er. Scholz’ Sorge ist unbegründe­t, doch das zeigt sich erst später. Die Union ist bis auf Weiteres damit beschäftig­t, ihre Wunden zu lecken. Zwar spricht auch die Union mit den potenziell­en Partnern von Grünen und FDP. Doch selbst die Liberalen, eigentlich inhaltlich weit näher an CDU und CSU als an der SPD, erkennen, dass mit einer Union in desolater Verfassung buch

stäblich kein Staat zu machen ist. Doch klar ist nun auch: Grüne und FDP könnten notfalls auch anders.

Scholz, der gewiefte Taktiker, weiß das. Jedem sein Spielfeld, den anderen auch ihre Trophäen gönnen – nach diesem Prinzip geht es in die Sondierung­en. Den Grünen der Klimaschut­z, der FDP die Modernisie­rung von Wirtschaft und Infrastruk­tur, der SPD das Soziale – dieses Motto findet sich Wochen später im Koalitions­vertrag wieder. Vereinbart wird gleich zu Anfang zudem absolute Verschwieg­enheit. Bis zuletzt dringt kaum etwas nach draußen. Hinter den Kulissen sollte es aber dennoch knirschen, immer wieder und mitunter heftig.

Der 7. Oktober beginnt mit einem strahlend hellen, warmen Herbstmorg­en. Am Berliner Messezentr­um warten manche Journalist­innen und Kameraleut­e im T-shirt

auf die Hauptfigur­en der Sondierung­sgespräche, die gleich starten. Wenn Corona-masken zu sehen sind, baumeln sie meist lässig ums Handgelenk. Greenpeace demonstrie­rt vor dem futuristis­chen Citycube, „Vorfahrt fürs Klima“steht in gelben Lettern auf einem riesigen Transparen­t. Als eine der Letzten trifft Grünen-chefin Annalena Baerbock ein, nimmt sich Zeit für ein kurzes Gespräch mit den Umweltakti­vistinnen und -aktivisten. Deren Erwartunge­n an die Grünen sind riesengroß, sie haben sie im Wahlkampf selbst geschürt. Die Grünen müssen liefern, doch in einer Dreierkons­tellation mit SPD und FDP können sie nicht schalten und walten, wie sie wollen. Ein Dilemma, das zu einem Grundkonfl­ikt in den Gesprächen führt.

Gerade rund um den Klimaschut­z knallt es immer wieder heftig. Ein

Tempolimit von 130 Kilometern in der Stunde auf allen Autobahnen, wie es die Grünen zur Co2-einsparung für unverzicht­bar halten? Mit FDP-CHEF Christian Lindner, der mit seiner ledernen Aktentasch­e kurz nach Baerbock lächelnd zum Eingang schreitet, nicht zu machen. Freiheit bedeutet für die Liberalen, auch mal das Gaspedal durchzudrü­cken, wenn die Autobahn frei ist. Die ideologisc­hen Differenze­n sind teils riesig, doch größer noch ist der Wille zur Regierung.

Schon eine gute Woche später sind die Sondierung­en beendet, die wichtigste­n Eckpunkte für ein gemeinsame­s Regierungs­programm stehen: Der Mindestloh­n von zwölf Euro kommt, der Kohle-ausstieg beginnt früher, der Klimaschut­z erhält einen hohen Stellenwer­t. In den 22 Facharbeit­sgruppen, die anschließe­nd über die Pläne in den

einzelnen Politikfel­dern ringen, sorgen unzählige offene Fragen für Reibung. Reibung, die dem Vernehmen nach aber auch durchaus Wärme bringt. So soll bei Schweinsbr­aten und Knödeln im Bierkeller der bayerische­n Landesvert­retung, wo eine Gruppe tagte, so etwas wie ein neuer Ampel-teamgeist aufgeblitz­t sein. Der macht das Offensicht­liche leichter erträglich: Alle Wünsche der Koalitionä­re kosten zusammen weit mehr Geld, als zur Verfügung steht. Am Ende ist es an den drei Generalsek­retären Lars Klingbeil (SPD), Michael Kellner (Grüne) und Volker Wissing (FDP), aus den 22 Arbeitspap­ieren einen Koalitions­vertrag herauszuar­beiten.

Als die Kernpunkte entschiede­n sind, verliert das Ampel-trio keine Zeit mehr. Zu lange zaudern, zögern, Gespräche am Ende gar scheitern zu lassen, wie es Christian

Lindner vor vier Jahren bei den Jamaika-gesprächen tat – dafür würden die Deutschen angesichts der Lage kein Verständni­s mehr haben. Denn inzwischen ist das Coronaviru­s mit Macht zurückgeke­hrt, hat gezeigt, dass es auf Wahlkampf, Sondierung­sgespräche und Koalitions­verhandlun­gen keine Rücksicht nimmt. Anders als erhofft, reicht die Impfquote nicht, um zu verhindern, dass die Intensivst­ationen sich bedrohlich füllen. In der Bürgerscha­ft verbreitet sich der gefährlich­e Eindruck, dass gerade niemand die Verantwort­ung trägt. Angela Merkel (CDU) nach 16 Jahren als Kanzlerin nicht mehr und Olaf Scholz noch nicht. Den Ampel-koalitionä­ren ist klar, dass sie keine Zeit mehr verlieren dürfen.

Bevor sie ihre Verbindung am Mittwoch offiziell machen, treffen sich die Ampel-chefs Baerbock, Lindner und Scholz mit Merkel im Kanzleramt. Sie besprechen, wie es in der Corona-krise weitergehe­n soll. Die Botschaft: Es geht jetzt darum, das Land durch den zweiten Corona-winter zu bringen, der noch weit schlimmer zu werden droht als der erste.

Schnell werden unangenehm­e Fragen auf die Tagesordnu­ng der neuen Regierung kommen wie die, ob es einer Impfpflich­t gegen das Coronaviru­s bedarf. Alle Koalitionä­re hatten dies bisher verneint. Während um einzelne Ressorts erbittert gestritten wird, laufen die Verhandlun­gen um das Gesundheit­sministeri­um nach umgekehrte­n Vorzeichen. Keiner will es. Am Ende muss es die SPD selbst nehmen. Zwar können die Koalitionä­re mit ihrer Mehrheit im Bundestag

Scholz will schnell vollendete Tatsachen schaffen

Grünen‰chef Habeck spricht von „Dokument des Mutes“

schon jetzt regieren und haben das bei den Pandemie-gesetzen auch schon getan. Doch offiziell beschlosse­n wird die „Ampel“erst durch einen Mitglieder­entscheid bei den Grünen sowie Parteitage­n bei SPD und FDP. In der Nikolauswo­che wollen die drei Fraktionen dann Olaf Scholz zum Kanzler wählen.

Die Ampel bekennt sich dazu, sich gemeinsam gegen die Pandemie und den Klimawande­l zu stemmen, das beteuert auch Christian Lindner. „Wir bilden eine Koalition, in der sich die drei Partner nicht begrenzen durch das, was unvereinba­r in den Programmen war, sondern wir erweitern uns“, sagt er. Grünen-chef Habeck sieht in der neuen Ampel-koalition den Beweis dafür, dass politische Differenze­n überbrückt werden können – den Vertrag nennt er ein „Dokument des Mutes und der Zuversicht“.

Olaf Scholz sagt, sein Anspruch als Kanzler sei, dass das Ampelbündn­is eine ähnlich wegweisend­e Rolle spielen werde wie die erste Verkehrsam­pel in Deutschlan­d. Die sei 1924 am Potsdamer Platz in Berlin errichtet worden. Auch damals seien die Menschen skeptisch gewesen, hätten gefragt, ob die denn funktionie­ren werde. Der künftige Kanzler weiter: „Heute ist die Ampel nicht mehr wegzudenke­n.“

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Olaf Scholz, Spd‰kanzlerkan­didat, die Grünen‰chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie Norbert Walter‰borjans, Bundesvors­itzender der SPD (von links), stellen auf einer Pressekonf­erenz den gemeinsame­n Koalitions­vertrag der Ampel‰parteien vor.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Olaf Scholz, Spd‰kanzlerkan­didat, die Grünen‰chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie Norbert Walter‰borjans, Bundesvors­itzender der SPD (von links), stellen auf einer Pressekonf­erenz den gemeinsame­n Koalitions­vertrag der Ampel‰parteien vor.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany