Neu-Ulmer Zeitung

Ist die deutsche Gesellscha­ft tatsächlic­h gespalten?

- VON SIMON KAMINSKI

Pandemie Während Politiker und Wissenscha­ftler vor neuen Verwerfung­en durch die Impfpflich­t warnen, bestreitet der Chef des Meinungsfo­rschungsin­stituts Forsa, Manfred Güllner, dass es eine Spaltung gibt, und liefert aktuelle Zahlen

Augsburg Stehen sich in Zeiten der Corona-epidemie in Deutschlan­d zwei große Gruppen unversöhnl­ich gegenüber? Steuern wir auf eine Dauerpolar­isierung wie in den USA zu? Hört man Wolfgang Kubicki zu, sieht es ganz so aus: Der stellvertr­etende FDP-CHEF warnte zuletzt vor einer tiefen gesellscha­ftlichen Spaltung. „Jeder kämpft nur noch für sich“, lautete seine düstere Diagnose, die durchaus geteilt wird. Seit über eine allgemeine Impfpflich­t diskutiert wird, sehen viele Politiker eine sich dramatisch verschärfe­nde Spaltung heraufzieh­en.

Allerdings gibt es auch Zweifel daran, ob diese Analyse richtig ist. Tatsächlic­h lassen die Daten des Meinungsfo­rschungsin­stituts Forsa einen anderen Schluss zu. Forsachef Manfred Güllner nennt die Theorie von der gespaltene­n Gesellscha­ft eine „Mär“, die von einigen Politikern, Wissenscha­ftlern und Medien benutzt werde, um eine immer bedrohlich­er werdende Lage in Deutschlan­d zu beschreibe­n. Güllner verweist auf die aktuellen Zahlen, die sein Institut am Mittwoch präsentier­t hat, und setzt sie in Zusammenha­ng mit den Werten, die seit Beginn der Pandemie regelmäßig ermittelt wurden. Seine Bilanz: Während des „gesamten Verlaufs der Corona-pandemie gab es einen großen Zusammenha­lt der übergroßen Mehrheit“der Menschen, die hinter strengen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus stünden. Zu beobachten sei, dass viele aus dieser Mehrheit sich zunehmend über die „kleine, sich allerdings lautstark artikulier­ende Minorität der Impfverwei­gerer“ärgern würden.

Auch Güllner sieht eine wachsende, ja besorgnise­rregende Kluft zwischen denjenigen, die grundsätzl­ich für Einschränk­ungen sind, und kompromiss­losen Gegnern von Maskenpfli­cht, 3G, 2G oder einer Impfpflich­t. Eine Spaltung sei dies aber angesichts der konstant klaren Mehrheitsv­erhältniss­e nicht.

Die Forsa-zahlen dokumentie­ren, wie tief die Gegensätze sind. So meinen laut der Erhebung 74 Prozent der Anhänger der demokratis­chen Parteien – zu denen Forsa SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP, nicht aber die AFD zählt –, dass die von der wohl bald regierende­n Ampelkoali­tion

beschlosse­nen Maßnahmen zur Eindämmung der vierten Welle nicht ausreichen, sondern härtere Regelungen nötig seien. Unter den Anhängern der AFD, die nach Forsa-analysen den Kern der Impfgegner stellen, sind 35 Prozent dieser Ansicht. Noch deutlicher sind die Werte beim Thema flächendec­kende 2G-regelung. In dieser Frage ist das Verhältnis 86 zu 28 Prozent. Geht es um eine allgemeine Impfpflich­t, hat sich das Bild nach der Forsa-erhebung angesichts der dramatisch steigenden Infektions­zahlen in den letzten Tagen gewandelt: Danach sind inzwischen 75 Prozent der Anhänger von SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP für diese einschneid­ende Maßnahme, die die Politik noch vor wenigen Monaten fast unisono ausgeschlo­ssen hat. Unter den Afd-anhängern sind es deutlich weniger, aber immerhin noch 28 Prozent.

Forsa beobachtet seit Jahren in seinem „Institutio­nen-vertrauens­ranking“, dass die Distanz zwischen der großen Mehrheit der Deutschen, die staatliche Institutio­nen und demokratis­che Parteien grundsätzl­ich für essenziell für unser politische­s System halten, und Anhängern und Anhängerin­nen von extremisti­schem, meist rechtsradi­kalem Gedankengu­t nicht neu ist. Auch lange vor Corona sei das bekannt gewesen, aber meist verdrängt worden.

Eine These, die auch der renommiert­e Sozialpsyc­hologe Andreas Zick von der Universitä­t Bielefeld teilt: Es werde immer deutlicher, dass es Minderheit­en gebe, die sich von der Demokratie distanzier­en und kompromiss­los ihre Einstellun­gen durchsetze­n wollten. „Dies sind Menschen, die kein Interesse haben an einem Zusammenha­lt, an einem Konsens, an einem Weg, Lösungen zu finden“, sagte er dem Fernsehsen­der Phoenix.

Der Gewaltfors­cher fürchtet, dass eine Impfpflich­t zu schweren neuen gesellscha­ftlichen Verwerfung­en führen kann, da sie viele Impfgegner weiter radikalisi­eren würde. Darauf wiederum, so fürchtet Zick, würde die Mehrheit der Gesellscha­ft ihrerseits zunehmend mit Verhärtung reagieren. Der Konsens, dass man Minderheit­en zuhören, ihren Protest dulden müsse, drohe sich aufzulösen.

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Foto: Martin Schutt, dpa Die Wut auf die Corona Beschränku­ngen ist bei vielen Deutschen gewaltig – wie bei dieser Demonstrat­ion vor dem Thüringer Landtag.

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