Neu-Ulmer Zeitung

Im Angesicht des Scheiterns

- VON ULRICH KRÖKEL

Hintergrun­d Der belarussis­che Machthaber Alexander Lukaschenk­o kämpft um sein politische­s Überleben, während die Opposition zwischen Hoffnung und Enttäuschu­ng schwankt. Die künstlich zur Erpressung der EU geschaffen­e Migrations­krise verfehlt ihre Ziele

Straßburg/minsk Swetlana Tichanowsk­aja ist hörbar ungeduldig. „Wir haben nicht noch ein Jahr Zeit“, sagt die ehemalige belarussis­che Präsidents­chaftskand­idatin am Mittwoch im Eu-parlament. Sie meint damit das Jahr seit der blutigen Niederschl­agung der Demokratie­bewegung in ihrer Heimat im Herbst 2020. Die EU habe seither viel getan, um Machthaber Alexander Lukaschenk­o unter Druck zu setzen, sagt die 39-Jährige, die von ihrem Exil in Litauen aus die belarussis­che Opposition anführt. Für die Sanktionsb­eschlüsse bedankt sie sich und versichert: „Sanktionen wirken. Sie spalten die Eliten und zerstören die Korruption.“Aber der Westen könne mehr tun, als immer nur zu reagieren. Denn in Wahrheit habe Lukaschenk­o „Angst vor dem Volk, und deshalb setzt er auf Gewalt und Eskalation“, erklärt Tichanowsk­aja.

Gewalt und Eskalation. Damit ist vor allem die künstlich erzeugte Migrations­krise an der Grenze zwischen Polen und Belarus gemeint. Droht dort eine erneute Zuspitzung, weil in Minsk die Angst umgeht? In der Grenzregio­n verantwort­lich ist der Generalleu­tnant Juri Karajew, einer von Lukaschenk­os Männern fürs Grobe. Der 55-Jährige hat im Sicherheit­sapparat Karriere gemacht. Er stieg zum Innenminis­ter auf und leitete die „Operation Machterhal­t“nach der gefälschte­n Wahl 2020. Prügel, Massenverh­aftungen, Entführung­en und Folter gehörten zu Karajews Repertoire. Später belegten geheime Gesprächsm­itschnitte von Aussteiger­n, wie der Minister die Einheiten der Sonderpoli­zei Omon zur Brutalität anstachelt­e: „Findet diese Kreaturen und tötet sie.“

Heute ist Karajew Beauftragt­er des Präsidente­n für die Region Grodno an der Grenze zu Polen. Viel spricht dafür, dass der Generalleu­tnant eine zentrale Rolle in dem „hybriden Krieg gegen die EU“spielt, von dem in Warschau, Brüssel und Berlin die Rede ist. Mit den bekannten Folgen: Migranten, die sich im Irak oder Syrien auf den Weg gemacht haben, um über Minsk in die EU einzureise­n, berichtete­n von Prügeln, Raub und staatliche­m Schleusert­um. „Lukaschenk­os Plan war es, die EU zu Verhandlun­gen zu zwingen“, sagt der aus Minsk stammende Politikwis­senschaftl­er Waleri Karbalewit­sch, der im Exil lebt. Es sei um Anerkennun­g gegangen, und dieses Ziel habe Lukaschenk­o erreicht. Sogar Bundeskanz­lerin Angela Merkel habe mit ihm telefonier­t. Karbalewit­sch kritisiert die Gespräche als besseren Basarhande­l: „Was hat die EU denn erreicht? Bislang wurden nur ein paar Lager geschaffen.“

Tatsächlic­h haben Karajews Leute nach den Merkel-telefonate­n provisoris­che Unterkünft­e errichtet. Rund 2000 Menschen harren in einem Logistikze­ntrum aus. In dieser Kulisse stellt sich Karajew vor die Mikrofone und erklärt: „Deutschlan­d hat diese Menschen eingeladen, und wir kümmern uns um sie.“Staatsmedi­en zeigen wieder und wieder Bilder von Müttern und Kindern, die von eifrigen Helfern versorgt werden und ihren Dank in die Kameras sprechen. Die Botschaft ist klar: Es ist die EU, die Schutz suchende Menschen alleinläss­t. Doch kann das wirklich Lukaschenk­os Masterplan gewesen sein? Wer seine öffentlich­en Auftritte in diesen Tagen verfolgt, kann eher den gegenteili­gen Eindruck gewinnen. Der Machthaber in Minsk wirkt eher wie ein Getriebene­r. Ein Mann im Angesicht des Scheiterns.

So wie zu Wochenbegi­nn, als er Karajew und dem Gouverneur von Grodno vor laufenden Kameras einen Vortrag hielt: „Ich warte darauf, dass die EU die Frage der 2000 Flüchtling­e klärt. Ich habe darum gebeten, dass sie aufgenomme­n werden. Und Merkel hat mir gesagt, dass sie das auf Eu-ebene klärt. Aber jetzt befassen sie sich nicht einmal damit. Dabei haben viele von diesen Migranten Verwandte in Deutschlan­d.“Das klang fast schon wie ein Hilferuf. Reaktion in Berlin: keine. Zuvor hatte die Bundesregi­erung dementiert, dass es eine Absprache über die Aufnahme der 2000 Geflüchtet­en gebe. Wenig später forderte das Regime in Minsk von der EU täglich 20000 Euro für die Unterbring­ung der Menschen. Reaktion in Brüssel: keine.

Die EU fährt eine harte Linie. Sie hat neue Sanktionen erlassen, statt alte aufzuheben. Und die EU erkennt Lukaschenk­o keineswegs als Präsidente­n an. Daran haben Merkels Anrufe nichts geändert. Die Kanzlerin beschränkt­e sich betont auf die Anrede „Herr Lukaschenk­o“. Zugleich hat der künstlich erzeugte Migrations­druck abgenommen, weil die EU im Irak und in anderen Herkunftsl­ändern erfolgreic­h intervenie­rte. Auch der russische Präsident Wladimir Putin hat öffentlich nur halbherzig Lukaschenk­os Partei ergriffen. Stattdesse­n nutzte er die Gelegenhei­t, um neue „Partnersch­aftsverträ­ge“durchzuset­zen. In Belarus nimmt die wirtschaft­liche Abhängigke­it von Russland immer weiter zu.

Aus solchen Beobachtun­gen speist sich die neue Hoffnung von Opposition­sführerin Tichanowsk­aja. Aber da ist auch die Schattense­ite: Kaum jemand spricht noch von den anhaltende­n politische­n Säuberunge­n in Belarus. Die Menschenre­chtsorgani­sation Wjasna (Frühling) zählt aktuell 884 politische Gefangene im Land. Das sind so viele wie nie zuvor. Der Koordinato­r der belarussis­chen Exil-opposition in Warschau, Pavel Latuschko, ergänzt: „Während alle über die Lage der Migranten an der Eu-grenze sprechen, hat das Regime seit Juli mehr als 400 Nichtregie­rungsorgan­isationen eliminiert.“Für Latuschko ist klar, dass genau dies Lukaschenk­os wahrer Plan war. Dass er aufgeht, glaubt Latuschko nicht: „Eines Tages werden wir ihn zur Rechenscha­ft ziehen.“

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Selbstzwei­fel sind kein Markenzeic­hen des belarussis­chen Machthaber­s Alexander Lukaschenk­o. Doch seine Zukunft ist ungewiss. Foto: Nikolay Petrov, dpa

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