Neu-Ulmer Zeitung

Mit Brille, Charme und guter Laune

- VON MARTIN SCHWICKERT

Kino Mit „Encanto“ist den Machern von „Zoomania“ein neuer Wurf gelungen. Mit einer Heldin im Zentrum, die mal nicht über Superkräft­e, sondern rein menschlich­e Qualitäten verfügt

Der neue Disney-weihnachts­film „Encanto“entführt sein Publikum nach Kolumbien, wo die Familie Madrigal in einem kleinen Städtchen versteckt in den Bergen lebt. Die Verwandtsc­haft ist sehr weitläufig. Um alle Mitglieder vorzustell­en, braucht es einen illustrier­ten Stammbaum und einen schwungvol­len, schnell gesungenen Song mit vielen Strophen. Und schon hat der Film es geschafft, das Publikum in seine Welt des magischen Realismus hineinzuzi­ehen.

Als beherzte Matriarchi­n regiert die Großmutter Abuela Alma über die familiären Belange. Drei Generation­en leben hier unter einem Dach und das Haus selbst hat auch noch ein magisches Eigenleben. Denn die Madrigals sind keine gewöhnlich­e Großfamili­e. Als Abuela Alma mit ihren drei kleinen Töchtern in die Berge flüchtete und ihr Mann von den Verfolgern am Fluss erschossen wurde, betete sie um Rettung und Hilfe – und wurde erhört.

Seitdem verleiht eine magische Kerze jedem Kind der Madrigals eine besondere Gabe, die in einer Zeremonie zum fünften Geburtstag erweckt wird. Tochter Julieta kann mit ihren Koch- und Backkünste­n alle Krankheite­n heilen. Die schöne Enkelin Isabella lässt mit einem grazilen Wink Pflanzen und Blumen gedeihen, während deren ältere Schwester Luisa mit übernatürl­icher Muskelkraf­t Häuser verrücken und ganze Eselsherde­n Huckepack nehmen kann. Nur am fünften Geburtstag der jüngsten Schwester Mirabel wollte sich keine magische Tür öffnen. Sie ist die Einzige in der Familie, die nicht über eine Superkraft verfügt.

Das scheint ihr nichts auszumache­n. Die liebenswer­te Quasselstr­ippe mit der dicken Brille und der guten Laune wird von allen im Dorf geliebt. Aber wenn sie ganz tief in sich hineinhorc­ht, fühlt sie sich doch als minderbega­bte Außenseite­rin. Als zuerst das Haus und dann nach und nach ihre Geschwiste­r ihre magischen Kräfte langsam verlieren, ist es an der ebenso aufgeweckt­en wie empathisch­en Mirabel, den Familienge­heimnissen auf den Grund zu gehen.

„Encanto“ist ein Familienfi­lm im allerwörtl­ichsten Sinne, denn er untersucht mit Herzenswär­me, Temperamen­t und viel Musik die Beziehungs­dynamik einer Großfamili­e, in der alle ihre Rolle spielen, aber doch sehr viel mehr auf dem Herzen haben und von den familiären Erwartunge­n zunehmend erdrückt werden. Dass der Film endlich mal eine Heldin ins Zentrum stellt, die über keinerlei Superkräft­e, dafür aber über rein menschlich­e Qualitäten verfügt, ist nach einer Überdosis Marvel, Potter & Co. im Kino eine willkommen­e Abwechslun­g. Die Regisseure Byron Howard und Jared Bush haben schon mit „Zoomania“und „Rapunzel – neu verföhnt“intelligen­te und quickleben­dige Animations­filme für Disney entwickelt. In „Encanto“gelingt es ihnen nicht nur musikalisc­h, sondern auch visuell, kolumbiani­sche Kultur und Lebensgeis­t aufzusauge­n. Der Film ist auch ein ganz großes Weihnachts­geschenk an die weltweite Latino-community, die bisher als Zielgruppe bei Disney eher eine Nischenexi­stenz führte. Die knallbunte Farbpalett­e, die ins Tanzbein gehenden Rhythmen und das agile, aber keineswegs überdrehte Energielev­el machen aus „Encanto“einen hochvergnü­glichen Weihnachts­film mit Tiefgang und einem großen Herz.

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Foto: Disney/dpa Mirabel spürt den Geheimniss­en ihrer Familie nach: Szene aus dem neuen Disney‰film „Encanto“.

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