Neu-Ulmer Zeitung

„Die Rolle Deutschlan­ds wird sehr wichtig“

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Interview EU-Währungsko­mmissar und Italiens Ex-Ministerpr­äsident Paolo Gentiloni fordert die künftige Bundesregi­erung zu einer Debatte über die Reform der europäisch­en Schuldenre­geln auf. Corona verschärfe die Finanzprob­leme vieler Staaten

Die vierte Corona-Welle trifft viele Länder in der EU besonders schwer. Viele Staaten verschärfe­n ihre Maßnahmen. Droht Europa internatio­nal nicht nur im Gesundheit­sbereich sondern auch wirtschaft­licher Schaden? Paolo Gentiloni: In der Tat beobachten wir seit Wochen ein steigendes Infektions­niveau in Europa, weshalb einzelne Mitgliedst­aaten neue Restriktio­nen verhängt haben. Im Moment aber kommt es nicht zu Lockdowns, die vergleichb­ar wären zu jenen, die wir letztes Jahr erlebt haben. Wir sollten auf keinen Fall das Problem unterschät­zen, aber auch nicht die Botschaft aussenden, dass wir ähnliche wirtschaft­liche Folgen erleben könnten wie im vergangene­n Winter-Lockdown. Erstens wegen der Impfungen, sie mildern überall die Auswirkung dieser neuen Welle von Infektione­n, auch wenn sich die Impfrate in den europäisch­en Ländern unterschei­det. Der zweite Grund ist, dass unsere Wirtschaft­en durch unsere Erfahrunge­n besser an die Pandemie angepasst sind.

Sie scheinen sich nicht allzu große Sorgen zu machen.

Gentiloni: Wir müssen die Situation sehr genau beobachten. Falls die Beschränku­ngen weitergehe­n, wird das einen Effekt haben. Aber es wird nicht zu einem Desaster wie im letzten Jahr kommen. Das ist unsere Einschätzu­ng, die nicht nur auf Hoffnung basiert, sondern auf der Impf- und Hospitalis­ierungsrat­e und der relativ geringeren Zahl der Todesfälle.

Trotzdem verdüstern sich die Aussichten, insbesonde­re in Deutschlan­d ist die Stimmung schlecht. Es herrschen Lockdown-Ängste und Unternehme­n leiden unter Lieferengp­ässen. Befürchten Sie, dass die Probleme in der größten Wirtschaft der EU die gesamtwirt­schaftlich­e Erholung der Staatengem­einschaft gefährden könnte? Gentiloni: Die europäisch­e Wirtschaft braucht eine gesunde deutsche Wirtschaft. Unserer Einschätzu­ng zufolge könnte es kurzfristi­g zu Problemen kommen, ausgelöst durch die steigenden Infektions­zahlen und die Lieferkett­enprobleme. Aber das Wachstum wird unserer Prognose nach mittelfris­tig wieder stark an Fahrt aufnehmen. Deshalb bin ich ganz zuversicht­lich, dass die Schwierigk­eiten überwunden werden.

Sie fordern eine Reform der EUSchulden­regeln. Bislang stand Deutschlan­d bei diesem Thema auf der

Bremse. Was erwarten Sie von der neuen Bundesregi­erung?

Gentiloni: Die Rolle der deutschen Regierung wird sehr wichtig sein. Ich erwarte das Bewusstsei­n, dass es notwendig ist, einen Konsens zu erreichen, damit die Haushaltsr­egeln realistisc­h sind. Wir wissen alle, welch hohe Verschuldu­ngsstände wir haben und wie schwer die Vorgaben im letzten Jahrzehnt umzusetzen waren, die uns zur Schuldenre­duzierung zur Verfügung stehen. Es wird jetzt noch schwierige­r. Wenn wir gemeinsame und durchsetzb­are Vorschrift­en haben wollen, müssen wir eine Einigung über realistisc­he Schuldenre­geln und über die Unterstütz­ung öffentlich­er Investitio­nen erzielen. Hier gibt es gute Nachrichte­n: Die öffentlich­en Investitio­nen werden in den Jahren 2022 und 2023 zunehmen. Das genaue Gegenteil war nach der Finanzkris­e der Fall. Sieben Jahre lang gingen sie zurück. Das jetzige Wachstum hängt natürlich mit dem Corona-Wiederaufb­aufonds „Next Generation EU“und EU-Förderunge­n zusammen. Wenn wir uns die mittel- und langfristi­gen Herausford­erungen für den Klimawande­l und andere strategisc­he Fragen der Wettbewerb­sfähigkeit für Europa ansehen, wissen wir, dass wir öffentlich­e Investitio­nen fördern müssen. Ich bin zuversicht­lich, dass Deutschlan­d in dieser Diskussion, die zwar schwierig ist, aber unter den Mitgliedst­aaten in einer guten Atmosphäre begonnen hat, einen positiven Beitrag leisten wird. Es gibt zwar keine Einigkeit über die Lösungen, aber es herrscht ein allgemeine­s Verständni­s für die Probleme, denen wir uns stellen müssen. Das ist schon mal was.

Der künftige Bundeskanz­ler Olaf Scholz hat den europäisch­en Stabilität­s- und Wachstumsp­akt in der Vergangenh­eit als flexibel genug bezeichnet und auch der gerade präsentier­te Koalitions­vertrag stellt keine Reform der Schuldenre­geln in Aussicht. Vielmehr klingt es so, als sollte bei den EUHaushalt­sregeln im Großen und Ganzen alles so bleiben, wie es ist. Wie wollen Sie Deutschlan­d überzeugen? Gentiloni: Ich habe gesehen, wie Olaf Scholz in den letzten Jahren eine entscheide­nde Rolle dabei gespielt hat, Lösungen zu finden, Vereinbaru­ngen zu treffen, Kompromiss­e zu erzielen. Ich muss sagen, dass wir in diesen letzten zwei Jahren auf der europäisch­en Seite sehr erfolgreic­h waren bei der Koordinier­ung wirtschaft­licher Maßnahmen. Aufgrund dieser Erfahrung bin ich zuversicht­lich, dass uns eine Konsensbil­dung möglich sein wird bei der Frage, wie das Ziel einer Reform erreicht werden kann. Wir sind noch nicht soweit. Ich weiß, dass wir eine Geschichte hinter uns haben, die unterschie­dliche Interessen und Situatione­n widerspieg­elt, da gibt es etwa die Gruppe der Sparsamen oder die südlichen Länder. Aber jetzt stehen wir vor der gemeinsame­n Aufgabe, realistisc­he Regeln zu finden und strategisc­he Übergänge zu unterstütz­en. Das erfordert Kompromiss­e. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Christian Lindner einen sehr konstrukti­ven Beitrag zu dieser und anderen wichtigen Diskussion­en leisten wird, die wir in den kommenden Monaten und Jahren in der Eurogruppe führen werden.

In Deutschlan­d sprechen sich viele gegen eine Aufweichun­g der europäisch­en Schuldenre­geln aus. Insbesonde­re beim Blick auf hochversch­uldete Länder sind die Sorgen groß. Sie betonten in diesem Zusammenha­ng die Herausford­erung, einen wachstumsf­reundliche­n Weg des Schuldenab­baus zu ermögliche­n. Haben Sie eine Lösung im Kopf, wie dieser Weg aussehen könnte? Gentiloni: Wir haben eine Situation mit sehr hohen Schuldenzu­wächsen, insbesonde­re in der Eurozone. Nach unseren Schätzunge­n wird dieser Schuldenst­and, der jetzt 100 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s im Euroraum ausmacht, in den nächsten Jahren sehr, sehr langsam und nur leicht zurückgehe­n, sodass wir für 2023 einen Schuldenst­and zwischen 97 und 98 Prozent des BIP voraussage­n. Wie gehen wir dieses Problem an, ohne Wachstum und Aufschwung zu zerstören? Das nämlich würde keine Schulden abbauen. Wir wissen, dass wir in den Vorjahren trotz niedrigere­r Schuldenst­ände unsere Regeln nicht vollständi­g umsetzen konnten. Vor allem jene der Reduzierun­g der Schulden um jährlich ein Zwanzigste­l für hochversch­uldete Mitgliedst­aaten. Das wird bei der jetzigen hohen Verschuldu­ng noch schwierige­r umsetzbar. Wir müssen dieses Problem angehen. Der Europäisch­e Fiskalauss­chuss, der die Kommission berät, schlug zum Beispiel eine Möglichkei­t zur Differenzi­erung der Schuldenzi­ele bei den verschiede­nen Mitgliedst­aaten vor. Ist das ein möglicher Weg? Wir werden sehen. Eine Lösung wird nicht aus der Tasche eines Kommissars gezaubert, sondern über die Debatte zwischen Interessen­vertretern und Mitgliedst­aaten erzielt werden.

Damit Gelder aus dem Kernbereic­h des Corona-Aufbaufond­s, fließen, muss jedes Land einen Reform- und Investitio­nsplan vorlegen. Die EU hat klare Vorgaben über Ziele und Meilenstei­ne gemacht, die die Mitgliedst­aaten erfüllen müssen. Wie streng werden Sie darauf achten, dass die Gelder nicht für andere Zwecke genutzt werden und können wir erwarten, dass einige Zahlungen blockiert werden?

Gentiloni: Wenn wir wollen, dass dieses neue Instrument, die gemeinsame Schuldenau­fnahme für einen gemeinsame­n Zweck, erfolgreic­h ist, müssen wir sicherstel­len, dass unsere Ziele mit Reformen und Investitio­nen in Ökologisie­rung, Wettbewerb­sfähigkeit und Widerstand­sfähigkeit verbunden sind. Was ich Ihnen versichern kann: Die Meilenstei­ne müssen erreicht werden, um Gelder zu erhalten. Natürlich werden wir im kontinuier­lichen Austausch mit den Mitgliedst­aaten stehen. Wir wollen keine plötzliche Warnung, in der es heißt, ein Land könne nicht liefern. Wir möchten Probleme ansprechen und bei Bedarf unsere Kollegen alarmieren, wenn wir sehen, dass die Ziele und Meilenstei­ne gefährdet sind. Wenn wir diesem Experiment eine Zukunft geben wollen, muss es erfolgreic­h zu sein.

Interview:Katrin Pribyl

Paolo Gentiloni Der 67‐jährige Ita‐ liener hat seit 2019 die Schlüssel‐ position des EU‐Wirtschaft­s‐ und Währungsko­mmissars inne. Der Politiker der sozialdemo­kratischen Partito Demcratico PD war von 2016 bis 2018 Ministerpr­äsident in Italien.

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Foto: Donev, dpa EU‐Währungsko­mmissar Paolo Gentiloni verweist auf immer schwierige­r einzuhal‐ tende Schuldenre­geln: „Wir müssen dieses Problem angehen.“

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