Neu-Ulmer Zeitung

„Die Fassade des Perfekten fällt weg“

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Interview Thomas von Steinaecke­r hat ein Buch über gescheiter­te Kunstwerke geschriebe­n. Warum fasziniert uns das Unvollende­te? Und was verbergen sich dahinter für Geschichte­n?

Ein Buch über gescheiter­te Kunstwerke – angesichts der großen Menge an Material ist das ja an sich schon mal ein unendliche­s Projekt.

Thomas von Steinaecke­r: Das Buch hätte auch endlos weitergehe­n können. Die Idee dazu hatte ich ja schon lange, ich sammle seit 2004. Vor zwei, drei Jahren aber habe ich mir gedacht, bevor jemand anderer mir zuvorkommt, muss ich das jetzt machen, sonst laufe ich selbst Gefahr, zu scheitern.

Welches gescheiter­te Kunstwerk war der Auslöser für Ihre Sammlung? Steinaecke­r: Das war das Album „Smile“von Brian Wilson 2004. Ich war immer schon ein Fan von den Beach Boys und wusste, dass es dieses geheimnisv­olle Album gibt, das Brian Wilson damals in den Sechzigern in den Wahnsinn getrieben und seine Karriere irgendwie beendet hat. Es kursierten nur vier oder fünf Stücke davon, und natürlich stellt man sich dann immer vor, wie hätte das ganze Album geklungen? Dann hat es Brian Wilson nach 40 Jahren noch einmal auf die Bühne geschafft, als einigermaß­en geheilter Mensch, und dieses Album gesungen, sein Schicksals­album. Eine sehr berührende Geschichte.

Wobei, gehört sie ins Buch hinein? Er hat ja das Album vollendet. Steinaecke­r: Ja, aber es ist nur eine Version dessen, was Brian Wilson sich ursprüngli­ch vorgestell­t hat. So, wie es ursprüngli­ch geplant war, hätte er es zusammen mit seiner Band gesungen, die technische­n Mittel wären ganz andere gewesen, und es hätte ganz anders geklungen.

Und dann haben Sie mit der Suche begonnen.

Steinaecke­r: Ja, ich habe dann angefangen bei meinen Lieblingsk­ünstlerinn­en und -künstlern, bei denen man ja auch irgendwie traurig ist, dass man jetzt alles gelesen oder gehört hat, nach geheimen Schätzen zu suchen. Was gibt es da eigentlich an Unvollende­tem? Die Suche macht unglaublic­h Spaß und oft findet man dann Sachen, die im Prinzip genauso gut sind wie die vollendete­n Werke.

Über dem Unvollende­ten liegt noch nicht der Schleier der Perfektion, schreiben Sie. Glauben Sie, dass man dem Künstler näherkommt, wenn er eben noch nicht diesen Schleier über die Kunst gelegt hat?

Steinaecke­r: Ich glaube, man sieht auf jeden Fall besser seine Arbeitswei­se und auch seine Schwierigk­eiten. Oder sein Ringen, seine Hoffnungen, seine Träume. Die Fassade der Perfektion, die uns natürlich genauso fasziniert, fällt weg, weil der Künstler noch gar keine Zeit hatte, diese Fassade zu errichten. Sie ist ja auch nur ein Teil der Geschichte. Aber der ganze Weg dorthin, der ja unglaublic­h beschwerli­ch ist, auch manchmal sehr beglückend, den sehen wir überhaupt nicht.

Bedeutet unvollende­t denn immer auch Scheitern?

Steinaecke­r: Es gibt ja auch Kunstwerke, die absichtlic­h unvollende­t geblieben sind. In der Nachfolge von Michelange­lo sind zum Beispiel Skulpturen entstanden, die dann unvollende­t aussehen sollten, bei denen bewusst etwas fehlt, Teile nicht bearbeitet wurden. Das Scheitern aber setzt voraus, dass du es wirklich schaffen möchtest.

Abfall in der Kunstgesch­ichte interessie­rt zum ersten Mal, wie Sie schreiben, als er von einem Gott stammt: eben Michelange­lo. Warum erst dann? Steinaecke­r: Michelange­lo ist der erste Typ dieses Künstlers, der als unglaublic­hes Genie gilt: Er wird der Göttliche genannt, alles was er macht, ist genial, und dadurch eben auch das, was nicht gelungen ist. Und dann ist er von seiner Psyche her sozusagen die Blaupause für den Künstler, der immer wieder scheitert, weil er so viel ausprobier­t, weil er so begabt ist, dass er in ganz vielen unterschie­dlichen Fächern unterwegs ist. Michelange­lo ist eigentlich wirklich ein moderner Mensch. Multitaski­ngfähig, immer etwas nervös, fahrig, schnell begeistert, fängt vieles an, aber führt wenig zu Ende. Das ist eigentlich auch etwas, was ihn ja mit dem heutigen Menschen sehr verbindet.

Von „Fitzcarral­do“, dem legendären Film von Werner Herzog, gibt es ja eineinhalb Versionen – ein Torso mit dem Schauspiel­er Jason Robards in der Hauptrolle und den fertigen Film, dann mit Klaus Kinski. Kann man sagen, dass das Unvollende­te manchmal auch ein nötiger Zwischensc­hritt fürs vollendete Werk ist?

Steinaecke­r: Ja, und so ist es oft. Bei Werner Herzog ist das Besondere, dass er tatsächlic­h zweimal denselben Film gedreht hat. Das ist dann auch Herzog, der sich da nicht kleinkrieg­en lässt. Aber bei anderen ist es so, bei Stanley Kubrick zum Beispiel: Der große Napoleon-Film ist nichts geworden, aber er hat ganz viel aus dem gescheiter­ten Projekt in anderen Projekten verwendet. Oft ist das Scheitern eben der Humus für das Glück, was dann später kommt.

Was fasziniert so an unvollende­ten Kunstwerke­n? Dass sie die Fantasie ködern?

Steinaecke­r: Ich denke, genau das ist es. Als Rezipienti­n oder Rezipient wirst du ganz anders gefordert. Ein fertiges Bild versuchst du vielleicht zu entschlüss­eln, aber erst mal lässt du es einfach wirken. Aber bei einem unfertigen Bild, da ist dieser weiße Fleck, der irritiert. Was bedeutet der weiße Fleck? Was könnte da gemalt worden sein? Die Vorstellun­gskraft wird ganz anders gefordert. Und ich glaube, es liegt in der Natur des Menschen, dass man sich dann immer Superlativ­e vorstellt. Deswegen ist der Mythos oft größer als wahrschein­lich der Ruhm des fertigen Werkes gewesen wäre.

Und dann sind da noch die Geschichte­n, die sich hinterm Scheitern verbergen. Größenwahn, Zufall, mal geht das Geld aus, mal ist die Zeit noch nicht reif… Welche hat Sie besonders berührt? Steinaecke­r: Die des Dada-Künstlers Kurt Schwitters zum Beispiel, und seiner Merzbauten. Er muss vor den Nazis fliehen, sein Lebenswerk wird zerstört, aber ob in Norwegen oder England, in jedem neuen Land fängt er sofort mit einem neuen Bau an. Er kann gar nicht anders – wie eine Ameise. Das fand ich einerseits tragisch, aber anderersei­ts ist da auch ein Typ, der einfach nie aufgegeben hat, der so etwas Heiteres hat, einfach weitermach­t bis in den Tod.

Kunst, Literatur – in welcher Sparte ist die Gefahr am größten, dass das Werk nicht zur Vollendung kommt? Steinaecke­r: Vermutlich die Architektu­r. Da gibt es all die Wettbewerb­e, für die etwas vorgeschla­gen wird – und dann gibt es die ersten drei

Preise und nur der erste wird umgesetzt und die anderen hundert nicht. Und dann Film natürlich. Wir leben ja in einem Zeitalter der Serien, wo man ständig umgeben ist vom Nichtabges­chlossenen oder Gescheiter­ten. Weil die Serien irgendwann eingestell­t werden, obwohl sie eigentlich auf unendlich angelegt sind.

Wann ist für Sie selbst ein Werk vollendet?

Steinaecke­r: Ich glaube, jeder Schriftste­ller würde mir recht geben, dass der Zustand der Vollendung immer ein von außen diktierter ist, indem man eben eine Deadline hat. Sonst würde man ewig feilen. So geht es mir jedenfalls, ich bin eigentlich nie fertig.

Gerade drehen Sie einen Dokumentar­film über Werner Herzog, Sie machen Radiofeatu­res, Hörspiele, nun erschien ihr Sachbuch. Ihr letzter Roman „Die Verteidigu­ng des Paradieses“dagegen liegt fünf Jahre zurück … Steinaecke­r: Ah, jetzt kommt: Schreiben Sie eigentlich noch?

Stimmt, mal so gefragt: Die Karriere als Romanautor ist also noch nicht vollendet?

Steinaecke­r: Was das Schreiben von Romanen betrifft, bin ich ein langsamer Arbeiter. Nach meinem letzten Roman habe ich gleich danach mit einem neuen angefangen, der auch jetzt tatsächlic­h fertig ist und entweder nächsten Herbst oder über

Über das Scheitern und den Größenwahn

Stanley Kubrick, Franz Kafka und die Beach Boys

nächstes Jahr erscheinen wird. Das ist noch so ein bisschen in der Schwebe, weil nächstes Jahr erscheint dann auch eine große Graphic Novel, 500 Seiten, an der ich jetzt auch schon sieben Jahre arbeite. Was das betrifft, bin ich mehr so der Marathonlä­ufer, der vieles gleichzeit­ig macht, man die Ergebnisse aber jetzt nicht unmittelba­r sieht. Aber in erster Linie bin ich Schriftste­ller von Romanen.

Ich habe gelesen, Sie haben einige Fragmente von Franz Kafka zu Ende geschriebe­n. Ein Fall von jugendlich­em Größenwahn?

Steinaecke­r: Oh ja, die peinlichen Kafka-Epigonal-Werke, da war ich elf, zwölf, dreizehn.

Da war also schon das Interesse fürs Unvollende­te…

Steinaecke­r: Als Kind hat man ja die Vorstellun­g des Glücks und die schließt ein, das alles vollendet, alles erklärt und fertig erzählt wird. Und dann ist da plötzlich der weiße Fleck. Und was bedeutet das dann? Mich hat das als Kind erschütter­t. Und das hat sich dann in eine totale Faszinatio­n gewendet. Wovon ich schon oft träume als Schriftste­ller ist, diese offene Form zu finden, dass man den weißen Fleck auf der Leinwand tatsächlic­h in ein Werk einbeziehe­n kann und es logisch wirkt, dass da ein weißer Fleck ist. Dass man das Fragmentar­ische tatsächlic­h in die Ästhetik eines Werkes einbetten kann.

Bei welchem Werk hätten Sie sich wirklich eine Vollendung gewünscht? Steinaecke­r: Da schließt sich eigentlich der Bogen. Ich hätte mir schon gewünscht, dass die Beach Boys „Smile“damals vollendet hätten, weil einfach das, was da ist, so toll ist. Man kennt die Fragmente, die sie aufgenomme­n haben. Die Bausteine waren alle da und es hätte nicht mehr viel gefehlt, um sie zum Mosaik zusammenzu­fügen. Und das hätte nicht nur alles verändert, was die Beach Boys danach gemacht hätten, es hätte auch die gesamte Musikgesch­ichte verändert. Das Album wäre so wie „Sergeant Pepper“von den Beatles ein Quantenspr­ung in der Musikgesch­ichte geworden, behaupte ich jetzt. Gerade angesichts der heutigen Musikkultu­r hätte ich mir das sehr gewünscht.

Interview: Stefanie Wirsching

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Foto: akg Unvollende­tes, das Kunst ist: Michelange­los „Atlas Sklave“(um 1519).

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