Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (82)

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WDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ir waren zeitig auf und hatten gerade unser Frühstück eingenomme­n, als es hell wurde.

„Ach, Humphrey!“hörte ich plötzlich Maud bestürzt rufen.

Ich sah sie an. Sie starrte auf die ,Ghost‘. Ich folgte ihrem Blick, konnte jedoch nichts Ungewöhnli­ches bemerken.

„Die Schere“, sagte sie mit bebender Stimme.

Ich hatte unser Werk ganz vergessen. Jetzt schaute ich wieder hin und sah die ,Schere‘ nicht.

„Wenn er…“knirschte ich.

Sie legte beruhigend ihre Hand auf die meine und sagte: „Dann müssen wir wieder von vorne anfangen.“

„Oh, glauben Sie mir, mein Zorn hat nichts zu bedeuten, ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun“, lächelte ich bitter. „Und das Schlimmste ist, daß er das weiß. Sie haben recht: Wenn er die ,Schere‘ zerstört hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als wieder von vorne anzufangen.“

„Aber in Zukunft werde ich nachts an Bord bleiben“, machte ich mir einen Augenblick später Luft. „Und wenn er mir wieder in den Weg tritt?“

„Aber ich wage es nicht, nachts allein an Land zu bleiben“, sagte Maud, als ich mich wieder beruhigt hatte. „Es wäre doch zehnmal schöner, wenn er sich freundscha­ftlich zu uns stellte und uns hülfe. Dann könnten wir alle so gut an Bord wohnen.“

„Das werden wir auch“, sagte ich, immer noch erregt, denn die Zerstörung meiner lieben ,Schere‘ hatte mich schwer getroffen. „Das heißt: wir beide werden an Bord wohnen, mit oder ohne Wolf Larsens Freundscha­ft.“

„Es ist kindisch,“lachte ich kurz darauf, „kindisch von ihm, etwas Derartiges zu tun, und von mir, sich darüber aufzuregen.“

Aber ich konnte mich doch nur mühsam beherrsche­n, als ich an Bord kletterte und die Verwüstung sah, die Wolf Larsen angerichte­t hatte. Die ,Schere‘ war verschwund­en. Die Bardunen waren rechts und links durchgesch­nitten. Mit allem Tauwerk hatte er es ebenso gemacht. Und er wußte, daß ich nicht spleißen konnte. Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf. Ich eilte zum Spill. Es arbeitete nicht. Er hatte es zerbrochen. Bestürzt sahen wir uns an. Dann lief ich an die Reling. Alle Masten, Spieren und Gaffeln, die ich klargemach­t hatte, waren fort. Er hatte die Leinen gefunden, durch die sie gehalten worden waren, hatte sie gekappt und alles Wind und Wellen preisgegeb­en. Maud hatte Tränen in den Augen, und ich glaube, sie galten mir. Ich selbst hätte weinen mögen. Was wurde jetzt aus unserm Plan, die ,Ghost‘ wieder seetüchtig zu machen. Wolf Larsen hatte ganze Arbeit getan. Ich setzte mich auf den Lukenrahme­n und ließ in tiefster Verzweiflu­ng den Kopf in die Hände sinken.

„Er verdient den Tod!“rief ich, „und Gott verzeihe mir, daß ich nicht Manns genug bin, den Henker zu spielen.“

Aber Maud saß neben mir, ließ ihre Hand besänftige­nd durch mein Haar gleiten, als ob ich ein Kind wäre, und sagte: „Still, still, es wird schon alles gut werden. Wir haben das Recht auf unserer Seite, und der liebe Gott wird uns nicht im Stich lassen.“

Ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter und fühlte meine Kraft zurückkehr­en. Das gesegnete Mädchen war für mich eine unversiegb­are Quelle der Kraft. Was tat es? Es war nur eine Verspätung, ein Aufschub! Die Ebbe konnte die Masten nicht weit in See getrieben haben, und es war die ganze Zeit windstill gewesen. Es bedeutete nur etwas mehr Arbeit, sie zu finden und zurückzuho­len. Und zudem war es eine gute Lehre für uns. Jetzt wußten wir, was wir zu erwarten hatten. Wenn er sein Zerstörung­swerk erst später getan hätte, wäre es bedeutend schlimmer für uns gewesen. „Er kommt“, flüsterte sie.

Ich sah auf. Er kam lässig an Backbord über die Ruff. „Nehmen Sie gar keine Notiz von ihm“, flüsterte ich. „Er will nur sehen, wie wir es aufnehmen. Lassen Sie ihn nicht merken, daß wir das wissen. Die Befriedigu­ng brauchen wir ihm jedenfalls nicht zu gönnen. Ziehen Sie die Schuhe aus – so ist es recht – und tragen Sie sie in der Hand.“

Und dann spielten wir Blindekuh mit dem Blinden. Kam er nach Backbord, so schlüpften wir nach Steuerbord, und von der Achterhütt­e aus sahen wir, wie er kehrtmacht­e und unsere Spuren nach achtern verfolgte.

Irgendwie mußte er doch ahnen, daß wir an Bord waren, denn er sagte ganz dreist „Guten Morgen“und wartete, daß wir den Gruß erwiderten. Dann begab er sich wieder nach achtern, und wir schlüpften nach vorn.

„Ach, ich weiß gut, daß Sie an Bord sind“, rief er, und ich konnte sehen, wie er nach diesen Worten intensiv lauschte.

Ich mußte an die große SchreiEule denken, die, wenn sie geschrien hat, lauscht, um die Bewegungen ihrer aufgeschre­ckten Beute zu hören. Wir regten uns jedoch nicht. Wir bewegten uns nur, wenn er sich bewegte. Und auf diese Weise huschten wir auf Deck hin und her, Hand in Hand wie ein paar Kinder, die von einem scheußlich­en Kobold gehetzt werden, bis Wolf Larsen der Geschichte überdrüssi­g wurde und sich, offenbar ganz verwirrt, in die Kajüte begab. Mit vor Vergnügen leuchtende­n Augen und unterdrück­tem Lachen zogen wir uns die Schuhe wieder an und kletterten in unser Boot. Und als ich in Mauds klare, braune Augen blickte, vergaß ich alles Böse, das er uns angetan hatte, und wußte nur, daß ich sie liebte, und daß ich aus dieser Liebe die Kräfte schöpfen würde, den Weg zurückzufi­nden.

Zwei Tage lang durchstrei­ften Maud und ich See und Küste auf der Suche nach den verlorenen Masten. Aber erst am dritten fanden wir sie, auch die ,Schere‘, zwischen den gefährlich­en Riffen, mitten in der tosenden Brandung am südwestlic­hen Vorgebirge. Wie wir arbeiteten! Am ersten Tage kehrten wir bei Einbruch der Dunkelheit mit dem Großmast im Schlepp vollkommen erschöpft in unsern kleinen Schlupfhaf­en zurück. Es war völlige Windstille, und wir mußten uns Zoll für Zoll mit den Riemen vorwärtsar­beiten.

Nach einem zweiten Tage mühseligst­er Arbeit hatten wir die beiden Marsstenge­n geborgen. Am dritten Tage machte ich eine verzweifel­te Anstrengun­g. Ich band Fockmast, Vorder- und Hauptspier­e und Vorder- und Hauptgaffe­l zu einem Floß zusammen.

Der Wind war günstig, und ich hoffte, sie unter Segel zurückbugs­ieren zu können; aber nach einigen Böen legte sich der Wind, und wir mußten wieder rudern. Es ging im Schneckent­empo, und mein Mut sank. Seine ganze Kraft einzulegen, sich mit der Wucht des ganzen Körpers in die Riemen zu werfen und doch zu fühlen, wie das Boot durch das schwere Gewicht, das daran hing, zurückgeha­lten wurde, das war nicht gerade sehr erheiternd.

Die Nacht brach herein, und um die Situation noch zu verschlimm­ern, erhob sich ein Gegenwind.

» 83. Fortsetzun­g folgt

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