Alles für meine Tochter
Guerilla Jennifer Diaz Gonsalez sucht im Regenwald Kolumbiens nach Minen: explosive Überbleibsel eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs, der lange noch nicht überwunden ist. Die junge Frau riskiert ihr Leben – um ihrem Kind ein besseres zu bieten.
Maracaibo Die Sonne brennt auf den Friedhof herunter. Kein Lufthauch, der die drei Windräder aus Plastik zum Drehen bringt. Stattdessen nur drückend-schwüle Hitze, die über die angrenzenden Wiesen und Bäume am Ortsrand flirrt. Zwei weiße Betonkreuze stehen hinter dem bunten Kinderspielzeug. Luis Eduardo Moreno und Didier Moreno lauten die Namen, die auf ihnen eingeprägt sind. Sie starben als Kinder am 25. März 2007. Davon berichtet der gegossene Beton.
Ihre Schicksale haben viel damit zu tun, warum Jennifer Diaz Gonsalez heute, kaum mehr als ein dutzend Kilometer entfernt, im Schatten des Regenwalds schwitzt – das Gesicht hinter Plexiglas, der Körper durch eine unförmige blaue Spezialweste geschützt. Die 25-Jährige ist Minensucherin für die Hilfsorganisation Humanity & Inclusion/Handicap International (HI). Die Gemeinschaft wurde 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und kämpft in mehr als 60 Ländern für die Rechte behinderter Menschen und für einen Alltag ohne Minen und Streubomben.
Gerade ist Jennifer Diaz Gonsalez auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, ein Pfad führt durch das satte Grün. Ein weißer Totenkopf auf leuchtendem rotem Grund warnt auf einem Schild am Waldrand: „Gefahr Minen“.
Auf ihrem Weg durchs Dickicht erzählt sie von den Schicksalen, die sich hinter den weißen Grabkreuzen verbergen. Die Kinder wurden indirekt zu Opfern der Guerilla-Kämpfe, der Auseinandersetzung Aufständischer gegen die Obrigkeit. „Ein Guerillero hatte damals mit einer Gasflasche einen Sprengsatz gebaut. Als Mine, zu seinem Schutz – doch gestorben sind die beiden kleinen Kinder seiner Partnerin“, erzählt die Minensucherin. „Mit dieser Geschichte bin ich als Teenager aufgewachsen. Sie hat mich geprägt, und sie macht mich heute noch wüoder sprengt sie baldmöglichst ein anderer Spezialist der Organisation HI.
In ihrem Heimatort Maracaibo mitten im Zentrum Kolumbiens steht für Jennifer Diaz Gonsalez der wichtigste Grund für ihre Arbeit auf zwei kleinen Füßen. Tochter Keira Lucia ist gerade einmal drei Jahre alt und wirft im Garten, umringt von hungrigen Hühnern, mit voller Inbrunst Maiskörner in die Luft. Im Hintergrund steht das kleine einstöckige Haus der Großmutter. In dem beschaulichen Dorf lebt das Kind, manchmal ist sie auch zu Besuch bei ihrer anderen Großmutter im nahen Städtchen Vista Hermosa. Die Minensucherin ist alleinerziehende Mutter, und ohne Unterstützung der Familie könnte sie ihrem Beruf nicht nachgehen. „Aber es zerreißt mir jedes Mal das Herz, wenn ich meine Tochter wieder verlassen muss“, sagt sie. Sechs Wochen ist sie dann am Stück im Camp der Minensucherinnen und Minensucher. Das liegt derzeit keine zehn Kilometer entfernt. Weiße Pagodenzelte reihen sich dort aneinander. Aber auf den von Pfützen übersäten und nicht asphaltierten Pisten bedeuten auch wenige Kilometer eine kleine Reise. Vor allem wenn die Regenzeit immer wieder für Matsch und Schlamm auf der Piste sorgt. Die Regeln für das Minenräum-Team sind strikt und klar. Doch weil ein Journalist aus dem fernen Deutschland zu Besuch ist, gibt es eine Ausnahme. So sehen sich Mutter und Tochter früher als geplant und sind überglücklich, sich wiederzuhaben. Die Umarmung dauert lange, sehr lange. Hund Secha kommt in die kleine Wohnküche und Kätzchen
Miaomiao ebenfalls. Sie haben keine Chance auf Streicheleinheiten, Mutter und Tochter sehen erst einmal nur sich.
Großmutter Maria Elvia lacht, als sie die beiden sieht. „Der Kleinen fehlt ihre Mutter schon sehr“, sagt sie leise. „Dass ich meine Keira so selten sehe, das ist das Schlimmste für mich“, erklärt die junge Mutter. Die Dreijährige hat mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. „Aber da habe ich einen guten Arbeitgeber, der mich schnell zu meinem Kind lässt, wenn es nötig ist“, erklärt die 25-Jährige.
Stolz zeigt Keira ihrer Mutter wackelige Fahrkünste auf dem MiniFahrrad mit Stützrädern. „Bueno“, ruft Jennifer Diaz Gonsalez, „gut!“. Dann macht sich das Duo auf zum überdachten Basketballplatz. Auf dem blauen Beton lassen sich hervorragend Runden mit dem Fahrrad drehen. Hund Secha springt daneben aufgeregt wie ein Känguru. Der letzte Sturm hat Wasser auf das Spielfeld geblasen. Keira startet ihr Lieblingsspiel: in Pfützen springen.
„Ich genieße jede Sekunde mit meinem Kind“, sagt die Minensucherin. Dann deutet sie auf den blauen Boden des Spielfelds, das mit den Tribünen quasi das Zentrum des Orts bildet. Mit zwei, drei Kneipen in der Nachbarschaft. „Das hat HI gestrichen“, sagt sie nicht ohne Stolz. Finanziert hat HI auch die Hängebrücke für Fußgängerinnen und Fußgänger sowie Boote über den nahen Fluss, eine Unterstützung für die Kaffeebauern-Vereinigung und die Ausstattung des kleinen Tourismusbüros. Denn in Maracaibo träumt man vom sanften Tourismus. Der hätte, wenn nicht gerade Corona das Reisen verhindert, durchaus Chancen. „Vor der Pandemie hatten wir Gäste aus dem ganzen Land, sogar einige aus Europa“, sagt die Dorfchefin Shirley Gonzales, die gerade vorbeikommt und eigentlich nur ein schnelles „Hola“zur Begrüßung sagen will. Das verschlafene Maracaibo liegt in einer atemberaubend schönen Natur. Vor dem Dorf ragt ein imposanter Berg auf, vom Sportplatz kann man sogar die Wasserfälle sehen.
„Meine Heimat hier hat viel zu bieten“, sagt Jennifer Diaz Gonsalez selbstbewusst. Doch die Menschen in Kolumbien erleben schwere Zeiten. Der Ende 2016 zwischen der Guerillabewegung Farc und der Regierung ausgehandelte Friedensprozess ist längst ins Stottern geraten. Teile der Farc weigerten sich, die Waffen abzugeben, die zweite große Guerilla-Organisation Eln unterschrieb den Vertrag nie und übernahm Gebiete, aus denen sich die Farc zurückgezogen hatte. Neue bewaffnete Gruppen bildeten sich und kriminelle Banden. Die Jugend fordert mehr Chancen und Bildung, auch mit Demonstrationen bis hin zu Straßenblockaden.
„Das muss doch alles einmal ein gutes Ende finden. Kolumbien hat genug Leid gesehen“, sagt die 25-Jährige traurig. Der bewaffnete Konflikt in ihrem Land hat von ihrer Familie einen hohen Blutzoll gefordert. „Das alles hier war unter Kontrolle der Farc“, sagt die Minensucherin und deutet mit dem Finger rundherum.
Ihr Vater wurde ermordet, da war sie ein Jahr alt. Er wollte aus der Farc aussteigen. Das ließ die Guerilla nicht zu. Stattdessen wurden ihre beiden älteren Brüder noch als Teenager rekrutiert. „Sie sind seitdem verschwunden. Und es gibt keine Hoffnung, sie lebend wiederzusehen“, meint die junge Frau. Traurige Nachricht kann jederzeit vom Suchdienst des Roten Kreuzes kommen. Mittlerweile wird mit Gen-Daten nach den Verschwundenen des Kriegs gesucht. Dort, wo Liquidierte einst verscharrt wurden, unbekannte menschliche Überreste auftauchen. „Dann hätten wir wenigstens Gewissheit“, meint die Minensucherin.
„Frieden muss von innen heraus kommen, von jedem einzelnen Menschen selbst“, fügt Jennifer Diaz Gonsalez mit fester Stimme hinzu. Die Bauern in Maracaibo und Umgebung versuchen, das Erbe des Bürgerkriegs zu überwinden. Sie haben eine Vereinigung gebildet und bauen jetzt gemeinsam Kaffee an, den sie soweit möglich selbst und ohne Zwischenhändler vermarkten wollen. Früher waren sie fast allesamt Koka-Bauern unter der Kontrolle der Farc. „Und wir sorgen dafür, dass die Minen verschwinden, damit sie ungefährdet weiter Kaffee anbauen und Vieh halten können. Das ist doch etwas sehr Schönes.“