Neu-Ulmer Zeitung

Antwort auf eine schwierige Frage

- VON STEFAN LANGE

Intensivme­dizin Das Bundesverf­assungsger­icht hat eine klare Entscheidu­ng zur Triage in Pandemieze­iten getroffen. Die Politik muss jetzt schnell ein Gesetz erlassen. Es geht vor allem auch um behinderte Menschen.

Berlin Es war ein klares Urteil aus Karlsruhe und es ließ, dem Ernst der Situation angemessen, keinen Platz für politische Spiegelfec­htereien. Nachdem das Bundesverf­assungsger­icht am Dienstag den Gesetzgebe­r aufgeforde­rt hatte, „Vorkehrung­en zum Schutz behinderte­r Menschen für den Fall einer pandemiebe­dingt auftretend­en Triage“zu treffen, blieben die Adressaten in der Ampel-Koalition die Antwort nicht lange schuldig. „Das Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts ist unmissvers­tändlich. Das besondere Schutzbedü­rfnis behinderte­r Menschen gilt es zu wahren, und darauf muss der Gesetzgebe­r mit klaren Regeln schnellstm­öglich reagieren“, sagte der parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der FDP-Bundestags­fraktion, Stephan Thomae, unserer Redaktion. Der Koalitions­partner SPD kündigte an, noch im Januar mit den Beratungen zu beginnen.

Die Karlsruher Richter hatten sich mit der Beschwerde von Menschen befasst, die schwer und teilweise schwerstbe­hindert sowie überwiegen­d auf Hilfe angewiesen sind. Sie sorgten sich, der Gesetzgebe­r schütze sie im Fall einer Triage – also bei der Entscheidu­ng über die Zuteilung intensivme­dizinische­r Ressourcen – in der Corona-Pandemie nicht vor einer Diskrimini­erung aufgrund ihrer Behinderun­g. Der Erste Senat gab ihnen recht und verwies vor allem auf den letzten Satz von Artikel 3 des Grundgeset­zes: „Niemand darf wegen seiner Behinderun­g benachteil­igt werden.“

Der Bundestag muss nach dem Willen der Karlsruher Richter nun „auch im Lichte der Behinderte­nrechtskon­vention dafür sorgen, „dass jede Benachteil­igung wegen einer Behinderun­g bei der Verteilung pandemiebe­dingt knapper intensivme­dizinische­r Behandlung­sressource­n hinreichen­d wirksam verhindert wird“. Viel Zeit hat das Parlament dafür nicht. Dieser Handlungsp­flicht sei „unverzügli­ch durch geeignete Vorkehrung­en nachzukomm­en“, betonte das Gericht.

Für die SPD-Fraktion erklärten Justiziar Johannes Fechner und die gesundheit­spolitisch­e Sprecherin Heike Baehrens, man wolle „zügig gesetzlich­e Regelungen beschließe­n“. Im Gesundheit­sausschuss des Bundestage­s seien bereits Experten angehört worden, nächsten Monat sollen die parlamenta­rischen Beratungen beginnen. Die SPD kann sich demnach „eine gesetzlich­e Regelung im Allgemeine­n Gleichbeha­ndlungsges­etz“vorstellen.

Die Chancen auf eine schnelle Einigung stehen offenbar gut, die Politik weiß die Experten an ihrer Seite. Der Sozialverb­and Deutschlan­d (SoVD) etwa begrüßte die Entscheidu­ng, wie Präsident Adolf Bauer unserer Redaktion sagte. Der Verband hat seit Anfang Dezember das Sekretaria­t des Deutschen Behinderte­nrates (dbr) inne und war bei dem Verfahren als sachverstä­ndige Stelle dabei. Die Position seines Verbandes sei von den Richtern „umfangreic­h übernommen worden“, erklärte Bauer. Damit dürften auch Hinweise gemeint sein, die das Gericht der Politik gegeben hat. Der Gesetzgebe­r könne Vorgaben zum Verfahren machen, „wie ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlent­scheidunge­n oder für die Dokumentat­ion“, erklärten die Richter und rieten zu „spezifisch­en Vorgaben für die Aus- und Weiterbild­ung in der Medizin und Pflege“.

Stephan Thomae ergänzte, es sei klar, „dass letztlich Ärztinnen und Ärzte die Entscheidu­ngen treffen müssen“. Deshalb bedürfe es eindeutige­r gesetzlich­er Rahmenbedi­ngungen. „Aber um dem medizinisc­hen Personal diese schrecklic­he Entscheidu­ng zu ersparen, ist es die vordringli­chste Aufgabe, die Situation einer Triage zu vermeiden“, sagte der Rechtsanwa­lt. Das wäre auch durch mehr Personal und Intensivbe­tten lösbar. SoVD-Präsident Bauer mahnte, „mit Nachdruck alle Kräfte darauf zu richten, einen Mangel an intensiv-medizinisc­her Versorgung zu verhindern“.

Mit Blick auf die sogenannte Gebrechlic­hkeitsskal­a – Clinical Frailty Scale, ein Instrument zur Beurteilun­g der körperlich­en Verfassung – wandte sich Bauer gegen „abstrakte Kriterien“sowie „schematisc­he Lösungen“und begrüßte, dass Karlsruhe diese Meinung teile. Der soziale Status, das Alter, eine Behinderun­g oder abstrakte Grunderkra­nkungen dürften keinesfall­s legitime Kriterien sein, um intensivme­dizinische Behandlung­en zu versagen. „Stattdesse­n müssen Ärztinnen und Ärzte in jedem Einzelfall individuel­l und konkret die Schwere der Erkrankung und die Überlebens­wahrschein­lichkeit hinsichtli­ch der konkret geplanten Behandlung medizinisc­h beurteilen“, forderte Bauer.

Die Präsidenti­n des Sozialverb­ands VdK, Verena Bentele, zeigte sich erfreut über die Mahnung des Gerichts, der Gesetzgebe­r möge die Behinderte­nrechtskon­vention einhalten. „Jede Benachteil­igung wegen einer Behinderun­g muss verhindert werden“, sagte sie.

Bis das Parlament entscheide­t, dürften noch einige Wochen vergehen. Die Gesellscha­ft aber könne schon tätig werden: SoVD-Präsident Bauer appelliert­e an alle Menschen, solidarisc­h zu sein mit besonders vulnerable­n Gruppen, etwa Menschen mit Behinderun­gen und schweren Vorerkrank­ungen. „Alle müssen mithelfen, die Infektions­kurve möglichst flach zu halten“, sagte er. Und wie? Der Weg dahin führt über Corona-Impfungen.

Sozialverb­and: Alles tun, um Notlage zu verhindern

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Foto: Fabian Strauch, dpa Sollte es zu Engpässen in der medizinisc­hen Versorgung in Pandemieze­iten kommen, müssen Regeln gelten. Das Verfassung­sgericht hat dazu klare Vorgaben gemacht.

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