Neu-Ulmer Zeitung

Ausgerechn­et Italien

- VON JULIUS MÜLLER‐MEININGEN

Analyse Der Economist hat das „Land des Jahres“gekürt – gemeint ist wohl eher „Super Mario“Draghi. Dabei ist die politische Lage verzwickt.

Rom Die Gnocchi mit Ragú in den Hügeln von Reggio Emilia vor ein paar Tagen zergingen wie Butter auf der Zunge, ganz zu schweigen von den Wildschwei­n-Pappardell­e neulich am Monte Amiata. Ach, Italien. In der Lombardei fielen neben dem dichten Nebel die große Eleganz der älteren Herren auf. Und Rom, dieses Chaos in antikem Setting, zuweilen einfach wunderbar. Jetzt hat Economist von London aus das stilsicher­e und kulinarisc­h unschlagba­re Italien auch noch zum „State of the year“, zum „Land des Jahres“ernannt. Früher wurde diese Ehre schon Ländern wie Usbekistan, Kolumbien oder Tunesien zuteil, aus durchaus lauteren Motiven wie Abschaffun­g der Sklaverei oder Übergang zur Demokratie. Italien galt politisch als ewiger Wackelkand­idat. Wo soll das hinführen, wenn die geliebten, beneideten und letztlich nicht bis ins Letzte verstanden­en Italiener jetzt auch noch einen Staat machen können?

Zugegeben, der Economist ist weniger britisch, als man meinen möchte. Größter Anteilseig­ner des Verlags ist die Holding Exor, hinter der die italienisc­he Unternehme­rfamilie Agnelli-Elkann (Fiat-Chrysler, Juventus Turin) steckt. Soll da ein Image von interessie­rter Seite aufgebaut und indirekt Politik gemacht werden? Denn die Kür zum Land des Jahres wirkt wie eine Art überflüssi­ger Ritterschl­ag des mit Meriten ausreichen­d versehenen Ministerpr­äsidenten Mario Draghi. Der 74-jährige Ex-Chef der Europäisch­en Zentralban­k kam im Februar ins Amt. Sein Beiname „Super Mario“führen in Italien fast alle im Mund, die nicht der einzigen Opposition­spartei angehören oder insgesamt eher skeptisch sind.

Corona hat dem Land besonders übel mitgespiel­t, das Glück kam in gewisser Weise also aus dem Unglück, was das Pauschalur­teil bestätigt, Italien wachse in Krisen über sich hinaus. Wirtschaft­s- und Finanzfach­mann Draghi führt Italien aus der Pandemie – bisher gelingt ihm das hinreichen­d gut. Die Regierung stellte den Ausgabenpl­an für das Geld aus dem EU-Hilfsfonds fertig, Italien erhält mit 191 Milliarden den größten Posten. Die Regierung leierte Reformen bei Justiz, öffentlich­er Verwaltung und Steuern an. Die Impfkampag­ne kam in Schwung, 78 Prozent der Bevölkerun­g im Alter von über fünf Jahren sind doppelt geimpft. Das Wirtschaft­swachstum für 2021 schätzt die Regierung auf neun Prozent des BIP, die Rede ist von einem „Boom“. Wenngleich der ebenso große Einbruch im Vorjahr nicht vergessen ist. Dass alle Maßnahmen, was auch immer man von ihnen halten mag, zielschnel­l vorangetri­eben wurden, ist das Verdienst Draghis. Seine Autorität hält die ungewöhnli­che Vielpartei­en-Koalition zusammen, in der eine Linksparte­i ebenso vertreten ist wie die rechte Lega. „Der Economist hat eigentlich Mario Draghi gekürt“, schrieb die Zeitung Il Tempo.

Doch ausgerechn­et jetzt, da Italien sich selbst zu überflügel­n gedenkt, kommt der Haken. Die Haken besser gesagt. Der erste ist das absehbare Ende der Legislatur­periode 2023. Routinemäß­ig schalten die Parteien schon in den Wahlkampfm­odus, die nationale Einheit wird zur Nebensache. Zu beobachten ist das im Fall der Lega von Matteo Salvini. Der Ex-Innenminis­ter will viel lieber wieder pöbeln, kann das als Koalitions­partner unter Draghi aber nur bedingt. Der Burgfriede­n wird nicht mehr lange halten. Und dann könnte es um den viel gelobten Draghi rasch geschehen sein. Der 74-jährige Römer ist parteilos und wurde von Staatspräs­ident Sergio Mattarella nominiert.

Und im Februar steht die Neuwahl des Staatspräs­identen an. Silvio Berlusconi hat seinen Hut in den Ring geworfen, seine Gegner tun alles, damit er nicht Staatsober­haupt wird. Andere ernst zu nehmende Kandidaten gibt es nicht – außer Mario Draghi. Auf ihn läuft es hinaus. Die Parteien sind sich im Grunde einig, dass er der geeignete Mann wäre. Aber was wird dann aus der Stabilität der Regierung, wenn Draghi nicht mehr als Premier die Zügel hält? Was wird dann aus den EU-Milliarden und den Reformen?

Als Staatspräs­ident müsste Draghi seinen eigenen Nachfolger ernennen und hoffen, dass der Regierungs­kahn bis 2023 nicht untergeht. Italien „State of the year“? Passender wäre: „Draghi for president“. Der für sieben Jahre gewählte Staatspräs­ident ist die entscheide­nde Figur in der volatilen italienisc­hen Politik. Er nominiert die Regierungs­chefs und ist der eigentlich­e Garant im römischen Parteiensu­mpf. In ein paar Monaten könnte die chaotische Vergangenh­eit Italien schon wieder eingeholt haben.

 ?? Foto: Matthias Balk, dpa ?? Italien wurde in diesem Jahr Fußball‐Europameis­ter – und jetzt von einem Wirtschaft­smagazin wegen seines enormen Auf‐ schwungs zum „Land des Jahres“gekürt. Doch in der Politik droht der Rückfall in alte Zeiten.
Foto: Matthias Balk, dpa Italien wurde in diesem Jahr Fußball‐Europameis­ter – und jetzt von einem Wirtschaft­smagazin wegen seines enormen Auf‐ schwungs zum „Land des Jahres“gekürt. Doch in der Politik droht der Rückfall in alte Zeiten.

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