Welcher Wahlkampf?
Abstimmung Zweieinhalb Wochen vor der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl überschattet der Ukraine-Krieg sämtliche innenpolitischen Debatten. Emmanuel Macron kommt das entgegen. Er ist jetzt großer Favorit und denkt über eine Frage erst gar nicht nach.
Paris Eigentlich war alles für Marseille geplant. Dort hätte die Wandlung vom Präsidenten zum Kandidaten stattfinden sollen. Mit einer feurigen Rede, voller Optimismus. Marseille, die pulsierende und raue Hafen-Metropole am Mittelmeer ist Emmanuel Macrons „Herzensstadt“, das hat der gebürtige Nordfranzose aus Amiens, der seit dem Jugendalter in Paris lebt, immer wieder durchblicken lassen. Vor tausenden Anhängern in Südfrankreich wollte Macron seinen Wahlkampf eröffnen, um sich für weitere fünf Jahre an der Spitze des Staates zu bewerben.
Zweimal gab es bereits ein Datum dafür, zweimal wurde der Termin abgesagt. Angesichts des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, erschien es fehl am Platz, eine Kundgebung in jener Kirmes-Stimmung abzuhalten, die WahlkampfVeranstaltungen in Frankreich prägt. Die anderen elf Kandidatinnen und Kandidaten tun das zwar längst. Doch Macron, so sagt es ein Berater im Élysée-Palast, könne doch schwerlich „morgens mit Wladimir Putin telefonieren und abends Wahlkampf betreiben“. Der Präsident hat in diesem Halbjahr auch die turnusmäßige EU-Ratspräsidentschaft inne und versucht, in der aktuellen Krise mit viel Einsatz zu vermitteln und zu verhandeln.
Innenpolitisch – das mag zynisch klingen – profitiert er von der tragischen Situation. Erst lag er in den Umfragen monatelang stabil bei 24 Prozent – genauso viel hatte er 2017 im ersten Wahlgang erhalten. In den vergangenen zwei Wochen aber sind seine Werte auf rund 30 Prozent gestiegen. Macron ist absoluter Favorit, ohne Wahlkampf machen zu müssen. Dabei gibt es in Frankreich viele, die den Ex-Banker und ehemaligen Wirtschaftsminister unter François Hollande regelrecht hassen. Sie lehnen ihn als arrogant und „neoliberal“ab, weil er eine unternehmerfreundliche Politik führt. Doch Frédéric Dabi vom Meinungsforschungsinstitut Ifop spricht von einem „Flaggen-Effekt“: In Kriegs- und Krisenzeiten versammelt der Präsident, der in Frankreich auch der Armeechef ist, die verunsicherte und wenig wechselwillige Bevölkerung hinter sich.
Hinzu kommt, dass sich Macron mit seiner oft wiederholten Forderung nach einem unabhängigeren und souveränen Europa, ob bei der Verteidigung oder der Energieversorgung, bestätigt fühlen kann. Seine stärksten Herausforderer von den Rechtsextremen Marine Le Pen und Éric Zemmour bis zum Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon waren bis vor kurzem glühende Putin-Fans. Zwar beeilten sich alle, den Einmarsch in die Ukraine zu verurteilen. Unter Rechtfertigungsdruck standen sie trotzdem.
Erst im letzten Moment entschied sich Macron Anfang März, seine Kandidatur per „Brief an die Franzosen“anzukündigen. Nur ein guter Monat blieb da noch bis zur ersten Wahlrunde am 10. April, auf die am 24. April die Stichwahl folgt. Kurz darauf startete er seinen Wahlkampf nicht auf einer Bühne in Marseille, sondern in einem Gemeindesaal im Pariser Vorort Poissy, dessen Bürgermeister Karl Olive zu seinen Vertrauten gehört.
„Es ist schwer, Kandidat und Präsident zugleich zu sein“, räumt Emmanuel Macron hier ein. „Bevor ich zu Ihnen kam, sprach ich mit US-Präsident Joe Biden, morgen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping.“Wer von seinen Konkurrenten könnte Ähnliches von sich behaupten? Macron habe ihm für diese Veranstaltung sein „totales Vertrauen“ausgesprochen und keine Themenvorgabe gemacht, sagt Olive eingangs. Nichts sei abgesprochen.
Dann stellen mehrere Bürger Fragen zum Ukraine-Krieg, zur Aufnahme von Flüchtlingen und zu den steigenden Energie- und Spritpreisen. Später enthüllt der Radiosender France Inter, dass alle Wortmeldungen vorher mit Olive abgestimmt waren. Der „direkte Kontakt mit den Menschen“, den Macron angeblich gesucht hatte, er war ein äußerst kontrollierter.
Das gilt auch für die Vorstellung seines Wahlprogramms vor gut 300 Medienleuten am vergangenen Donnerstag im Pariser Vorort Aubervilliers. Vier Stunden dauert die Pressekonferenz, bei der der smarte 44-Jährige fast ununterbrochen redet und dabei kaum in sein Manuskript blickt. Auch hier spricht er über die Schlüsse aus dem Krieg in der Ukraine. Er will das Verteidigungsbudget konsequent weiter erhöhen, die Anzahl der Reservisten verdoppeln, die erneuerbaren Energien ausbauen und zugleich den Bau neuer Atomreaktoren in Auftrag geben. Außerdem kündigt er Steuersenkungen, eine Reform der französischen Arbeitsagentur, die Verschärfung der Sozialhilferegeln und das Anheben des Eintritts ins Rentenalter von 62 auf 65 Jahre an. Letzteres ist ihm in dieser Amtszeit nicht gelungen.
Überraschungen gibt es kaum. 2017 stellte Macron, damals ein politischer Senkrechtstarter mit seiner jungen Partei „En marche!“(„Auf geht’s!“), seine Vision einer „Transformation“der französischen Gesellschaft vor, wollte alte Blockaden aufbrechen, das ideologische LinksRechts-Schema überwinden. Heute steht er für ein „Weiter so“. Sein Programm klingt so rechtskonservativ, dass ihm die Republikanerin Valérie Pécresse vorwirft, er kopiere sie. Vom Umstürzler ist Macron zum Beschützer geworden. Sein Slogan lautet „Avec vous“, also „Mit euch“oder „An eurer Seite“.
Am Abend seines Presseauftritts geht es in den Hauptnachrichten vor allem um die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine und nur kurz um Macrons Programm. Obwohl das französische Fernsehen sonst wenig über internationale Nachrichten berichtet, überlagert der Schrecken des Krieges weiterhin den Wahlkampf. Zumal dieser angesichts der Meinungsumfragen für viele schon gelaufen ist. Macrons Gegner kämpfen gegen diesen Eindruck an. Sie werfen ihm vor, sich zu entziehen. Eine Fernsehdebatte vor der ersten Runde lehnt er ab, schließlich habe das kein Präsident im Amt getan.
„Wenn es keinen Wahlkampf gibt, stellt sich die Frage der Legitimation des Gewinners“, warnt der Senatspräsident Gérard Larcher. Für Larchers Partei, die Republikaner, wäre es ein herber Schlag, sollte sie erneut die Stichwahl verpassen. Momentan sieht es ganz danach aus, Kandidatin Pécresse liegt bei rund zehn Prozent.
„Ich bin die Einzige, die Emmanuel Macron schlagen kann“, wiederholt die 54-jährige Präsidentin der Hauptstadtregion zwar weiterhin. Sie sei zu „zwei Dritteln Angela Merkel, ein Drittel Margaret Thatcher“, sagt Pécresse über sich – eine Frau, die standhalte, zäh und autoritär zugleich sei. Doch nach einem guten Wahlkampfstart fiel sie hinter Le Pen und Zemmour zurück.
Eine Kundgebung Mitte Februar in Paris, die Pécresse den entscheidenden Schwung geben sollte, geriet zum Desaster. Sie wirkte wie eine Laienschauspielerin, die ihren Worten vergeblich eine schwerwiegende Betonung verleihen will, und klang über weite Strecken wie Marine Le Pen, etwa als sie plakativ verkündete, dass die Nationalfigur Marianne „keinen Schleier trägt“. Zwischen Macron, der wie sie ein liberales Reformprogramm vorschlägt, und den Rechtsextremen hat Pécresse ihren Platz nicht gefunden. Denn aufgrund des Drucks des rechten Parteiflügels grenzte sie sich nicht klar gegen rechts außen ab.
Auch dort machen sich die beiden Kandidaten gegenseitig Konkurrenz. In den Umfragen liegt Le Pen mit rund 17 Prozent vor Zemmour mit zwölf Prozent. Sie setzt auf das Thema Kaufkraft, gibt sich als Verteidigerin der „kleinen Leute“. Zemmour, der früher Journalist war und Bestseller mit Titeln wie „Der französische Suizid“geschrieben hat, spricht dagegen eher das bürgerliche Milieu an, indem er ständig historische Verweise auf Napoleon oder Charles de Gaulle macht, Frankreichs einstiger Größe nachtrauert und sie wiederherstellen will. Das sei nur möglich mit einem Einwanderungsstopp und der „Assimilierung“von Ausländern. So schlug er vor, Eltern vorzuschreiben, ihren Kindern französische Vornamen zu geben. Mehrmals wurde er wegen Volksverhetzung verurteilt.
Seine Wahlkampfauftritte lässt der 63-Jährige bombastisch inszenieren, mit lauter Musik und wehenden Frankreich-Fahnen. Das überwiegend männliche Publikum skandiert, wie sonst nur bei Le Pens Auftritten: „On est chez nous“, „Wir sind hier bei uns“. Gemeint ist: Fremde raus. Zemmour tritt als einziger Überraschungskandidat in diesem Wahlkampf an und stärkt das rechtsextreme Lager. 2017 erzielte Le Pen in der Stichwahl 34 Prozent – heute könnte sie mit 40 Prozent rechnen.
Das linke und grüne Spektrum ist hingegen zersplittert mit sechs Kandidatinnen und Kandidaten. Den einstelligen Bereich verlässt dabei nur Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, der zuletzt auf 13 Prozent aufstieg. Seiner Partei „La France Insoumise“(„Das widerspenstige Frankreich“) zufolge strömten am vergangenen Sonntag 100.000 Menschen zu einer Kundgebung auf dem Platz der Republik in Paris. „Entzieht euch nicht dieser Wahl!“, rief Mélenchon der feiernden Menge zu. „Geht wählen und ihr bekommt die Rente mit 60!“
Trotz solcher Versprechen seiner Gegner bleibt Macron ein komfortabler Vorsprung. Derart komfortabel, dass er während seiner Pressekonferenz in Aubervilliers sichtlich überrascht ist von der Wortmeldung einer Journalistin der Satiresendung „Quotidien“. Was er eigentlich vorhabe, falls er nicht wiedergewählt werde, fragt sie. „Hören Sie … es ist keine Eitelkeit zu sagen, dass ich mir die Frage in meinem Innersten nicht wirklich gestellt habe“, antwortet er. Nach heutigem Stand erscheint das auch nicht notwendig.
Viele von Macrons Gegnern waren eben noch Putin‐Fans
Ein entscheidender Auftritt wird zum Desaster