Neu-Ulmer Zeitung

„Wo Bomben fallen, hört Kindheit auf“

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Interview Unicef-Chef Christian Schneider und seine Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r vor Ort erleben tagtäglich das Leid und die Erschöpfun­g vieler ukrainisch­er Familien.

Herr Schneider, der Angriffskr­ieg der russischen Armee in der Ukraine dauert nun schon vier Wochen an. Was berichten Ihre Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r über die humanitäre Lage vor Ort?

Christian Schneider: Der Krieg trifft immer mehr Städte und Regionen der Ukraine. Er ist eine Katastroph­e für die Kinder. Jeden Tag werden Mädchen und Jungen verwundet oder getötet, werden Schulen und Gesundheit­seinrichtu­ngen getroffen. Selbst an Orten, an denen Kinder und ihre Familie Schutz suchen, sind sie nicht sicher. Hunderttau­sende Menschen sind ohne sauberes Wasser, Nahrung und Strom. Tausende Kinder sind gezwungen, in unterirdis­chen Unterkünft­en oder U-Bahn-Stationen Schutz zu suchen. Die Lage ist besonders dramatisch in den umkämpften Städten, in denen Familien eingeschlo­ssen sind, insbesonde­re im Osten des Landes. Den Familien fehlt es dort an allem. Wir erleben die größte Fluchtbewe­gung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg: Mehr als 1,5 Millionen Kinder sind bereits in die Nachbarlän­der geflohen – das heißt: Jede Sekunde flieht ein Kind.

Unser Reporter Till Mayer hat in den vergangene­n Tagen mit vielen Familien gesprochen. Wie sehr leiden die Kinder in der Ukraine insbesonde­re auch seelisch?

Schneider: Ein Kollege sagte in diesen Tagen: Wo Bomben fallen, hört Kindheit auf. Die Kinder befinden sich seit Wochen im Ausnahmezu­stand. Von einem Tag auf den anderen mussten sie lernen, wie sie sich vor Angriffen schützen, anstatt in die Schule zu gehen. Sie mussten ihre Väter, Freundinne­n und Freunde verlassen, sind häufig tagelang unterwegs, um Schutz zu suchen. Unicef-Mitarbeite­r berichten von Kindern, die in U-Bahn-Stationen oder Bunkern geboren werden. Von Krankenhäu­sern, die Verletzte oder Kranke in Kellern versorgen müssen. Die Kinder sind erschöpft, viele stehen unter Schock und sind traumatisi­ert.

Wie hilft Unicef den Menschen dort? Schneider: Gemeinsam mit unserem großen Netzwerk an Partnern sind wir weiter im Land im Einsatz, um Kindern zu helfen und trotz der Kämpfe die Versorgung­skette auszubauen. Das ist eine enorme Herausford­erung angesichts der unsicheren Situation. Wir liefern große Mengen lebenswich­tiger Hilfsgüter, darunter medizinisc­he Ausrüstung, Medikament­e, Hygieneset­s, Spielund Lernmateri­alien, aber auch Decken und warme Kleidung. Wo immer möglich, bringen wir Trinkwasse­r und Ausrüstung, um beschädigt­e Wasserleit­ungen zu reparieren. Mobile Teams an Hotspots und Sammelpunk­ten für Familien, die innerhalb des Landes auf der Flucht sind, leisten psychosozi­ale Hilfe. An 29 U-Bahn-Stationen in Charkiw haben wir Lern- und Spielecken eingericht­et. Aber der Bedarf an Hilfe wächst jeden Tag.

Was wird aus denen, die fliehen? Schneider: Kinder, die aus der Ukraine fliehen, sind den Angriffen entkommen. Aber sie sind weiter vielen Risiken ausgesetzt. Sie laufen jetzt Gefahr, von ihren Familien getrennt oder Opfer von Gewalt, sexueller Ausbeutung oder Menschenha­ndel zu werden. Um Mütter und Kinder auf der Flucht zu unterstütz­en, richten wir an den Grenzüberg­ängen in den Nachbarlän­dern sogenannte „Blue Dot“-Anlaufstel­len ein. Das sind sichere Orte, an denen Kinder und ihre Familien wichtige Hilfe erhalten und etwas durchatmen können. Die „Blue Dots“helfen auch dabei, unbegleite­te und von ihren Eltern getrennte Kinder zu identifizi­eren und dafür zu sorgen, dass sie geschützt werden.

Läuft der Rest Europas Gefahr, Polen, Rumänien und Co. mit der riesigen

Zahl an Flüchtling­en im Stich zu lassen?

Schneider: Jedes Kind, das vor Krieg flieht, hat Anspruch und Recht auf Schutz und Unterstütz­ung. Die Einigung der EU-Staaten auf die Massenzust­rom-Richtlinie für geflüchtet­e Menschen aus der Ukraine ist historisch und angesichts der dramatisch­en Situation eine wichtige Weichenste­llung. Es ist offensicht­lich, dass die Hilfe auf viele Schultern verteilt werden muss.

Unicef engagiert sich weltweit. Gibt es etwas, was die Arbeit in der Ukraine unterschei­det von anderen Einsätzen? Schneider: Der Krieg trifft ein modernes Land mitten in Europa. Die Spannungen in der Ukraine waren in den vergangene­n Jahren hoch – trotzdem haben nur wenige mit einer solchen Katastroph­e gerechnet. Es ist im Moment völlig offen, wie die Gewalt gestoppt werden kann und die Zukunft aussehen wird. Fest steht: Es wird schon jetzt Jahre dauern, um die tiefen Wunden in den Seelen der Kinder aufzuarbei­ten. Sie sind die Hauptleidt­ragenden dieses Krieges. Sie können nichts für die Gewalt – das gilt auch für andere

Krisensitu­ationen wie Syrien, Afghanista­n oder den Jemen.

Die russische Armee greift zunehmend auch zivile Ziele an: Wie schätzen Sie die Gefahrenla­ge für Ihre Kolleginne­n und Kollegen ein?

Schneider: Unicef und unsere Partner arbeiten unter schwierige­n und gefährlich­en Bedingunge­n. Wo immer es möglich ist, weiten wir die Hilfe aus. Im Moment wird die Arbeit von Lwiw aus organisier­t – dort ist gewisserma­ßen unser Drehkreuz für die humanitäre Hilfe. Diese zielt darauf ab, Städte und Gemeinden, Krankenhäu­ser, Schulen und Freiwillig­e zu unterstütz­en, damit die Grundverso­rgung der Kinder aufrechter­halten werden kann. Aber damit das überall möglich ist, brauchen wir eine Waffenruhe und humanitäre Korridore.

Kann für Unicef eine Situation eintreten, in der Sie sagen müssen: Wir müssen raus?

Schneider: Die Sicherheit unserer Kolleginne­n und Kollegen, darunter viele Ukrainerin­nen und Ukrainer, und der Partner hat höchste Priorität. Daher überprüfen und bewerten wir kontinuier­lich die Sicherheit­slage. Unser Ziel bleibt es, alle Kinder mit lebenswich­tiger Hilfe zu erreichen. Es kann sein, dass in manchen Regionen die Hilfe unterbroch­en wird – aber unser Team ist fest entschloss­en, im Land zu bleiben und weiter im Einsatz für Kinder zu sein.

Ihre Kolleginne­n und Kollegen vor Ort sind meist kriegs- und krisenerpr­obt – im Gegensatz zu den vielen zivilen Helfern, die sich etwa aus Deutschlan­d auf den Weg in Richtung ukrainisch­er Grenze aufmachen. Welche Hilfe von Laien hilft aktuell am meisten? Schneider: Die Solidaritä­t mit den Menschen in der Ukraine ist sehr groß. Als Teil der profession­ellen humanitäre­n Hilfe schiebt Unicef ein großes Nothilfepr­ogramm an, auch mithilfe der Spenden aus Deutschlan­d. Diese Spenden sind weiter dringend nötig. Wir arbeiten mit standardis­ierten Hilfsgüter­n für den Krisenfall, die aus unseren Warenlager­n ins Land gebracht werden. Wir leisten auch organisato­rische Hilfe und Unterstütz­ung für unsere Partner in den Städten und Gemeinden. Dies ist unter den sich ständig verändernd­en Bedingunge­n und dem enorm wachsenden Bedarf eine sehr schwierige Aufgabe. Wir können deshalb zum Beispiel keine Sachspende­n entgegenne­hmen.

Interview: Yannick Dillinger

Christian Schneider ist seit 2010 Geschäftsf­üh‐ rer von Unicef Deutschlan­d. Vorher war er als Zei‐ tungsjourn­alist tätig.

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Foto: Vadim Ghirda, dpa Fahrt ins Ungewisse: Eine Frau und ein Kind, die aus dem Raum Kiew gerettet wur‐ den, schauen aus dem Fenster eines Busses.
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