Licht aus, Leben an
Tennis Ashleigh Barty hatte alles, um die kommenden Jahre sportlich zu dominieren. Nun ist sie zurückgetreten. Die 25-Jährige sagt: „Ich bin verbraucht.“Sie scheint aber fähig, ihr Glück auch an anderer Stelle zu finden.
Melbourne Als Ashleigh Barty vor knapp zwei Monaten in Melbourne mit der Siegestrophäe der Australian Open posierte, umkreisten die stolze Lokalmatadorin noch die branchenüblichen Spekulationen: Würde die Nummer 1 in diesem Jahr als erste Spielerin seit Steffi Graf 1988 auch alle weiteren Grand-Slam-Turniere gewinnen? Würde Barty ihre Dominanz an der Spitze der Weltrangliste zementieren? Würde sie sich endgültig als bestimmende Kraft in einer Zeit nach Serena Williams etablieren?
Doch allen möglichen Prophezeiungen und Prognosen der Expertenbataillone hat Barty am 23. März 2022 nun ein überraschendes Ende gesetzt. Während ihre Mitstreiterinnen sich gerade bereit machten für das nächste große US-Frühjahrsturnier in Miami, verkündete die Australierin in einem ebenso unaufgeregten wie spektakulären Video aus der Heimat ihren jähen Rücktritt vom Profitennis – mit gerade einmal 25 Jahren, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. „Ich weiß, viele werden es nicht verstehen. Das ist okay so. Aber ich weiß tief in meinem Herzen, dass es richtig ist. Ich bin glücklich mit dieser Entscheidung“, sagte Barty in einem Interview, das von ihrer langjährigen Freundin und wichtigsten Mentorin Case Dellaqua geführt wurde.
So schnörkellos und geradlinig wie bei ihren Gastspielen auf den größten Bühnen des Wanderzirkus erklärte die Nummer 1 auch ihre plötzliche Demission: „Ich habe die Energie nicht mehr in mir. Den physischen Antrieb, dieses emotionale Verlangen. Und alles, was nötig ist, um sich den anderen in der Spitze zu stellen“, so Barty. Und dann fügte sie drei eindringliche Worte hinzu: „Ich bin verbraucht.“
Bartys Abschied war der wohl ungewöhnlichste Schritt eines Topprofis im Tennisgeschäft seit jenem 23. Januar 1983, an dem Björn Borg mit 26 Jahren in den sehr frühen Ruhestand ging. Vergleiche sind schwierig, aber bei Barty wie auch bei dem legendären Schweden spielen ähnliche Zermürbung in der Tretmühle der Tour und Motivationsprobleme eine wesentliche Rolle. Für sie sei nun wichtig, „die nächste
Phase meines Lebens zu genießen. Als Ash Barty, der Mensch. Nicht als Ash Barty, die Athletin“, sagte die Australierin.
Barty verkörperte für die Australier das Idealbild einer Sportlerin, ganz in der Tradition jener Asse, die zwischen 1950 und 1970 unprätentiös und skandalfrei die Tenniswelt beherrschten. Sie kam in ihrer Karriere ebenfalls ohne Allüren und Eitelkeiten aus, manchmal wirkte sie wie ein Fremdkörper in der Glitzerund-Glamour-Branche, in der oft genug der Schein trügt. Die Nummer 1 der Welt war eher das Mädchen von nebenan – unkompliziert, bescheiden, normal im besten Sinne. „Sie braucht ihr Gesicht nicht jeden Tag in der Zeitung zu sehen, um glücklich zu sein“, sagte Martina Navratilova, die Altmeisterin, jüngst zum Australian-OpenSieg von Barty, „sie ist der ,real deal‘. Ein klasse Typ“. Billie Jean King, die Begründerin des modernen Tennis, hielt
Barty im Januar in Melbourne noch für die sportlich wahre Erbin der auslaufenden Epoche der WilliamsSchwestern – sie habe alles, so die Amerikanerin, „um für Jahre die führende Rolle zu spielen“. Doch das ist nun auch Geschichte.
Bartys Karriere verlief keineswegs geradlinig. 2011 gewann die kompakte Athletin bereits das Juniorinnen-Finale in Wimbledon, im Alter von 15 Jahren. Rasche Erfolge auf der Tour der Erwachsenen folgten, besonders mit ihrer Doppelpartnerin und besten Freundin Dellaqua. 2014, in einer ersten Leistungskrise, entschloss sich Barty zu einer Radikaltherapie – sie verließ den Wanderzirkus ohne Rückkehrdatum, nahm sich schließlich knapp zwei Jahre Auszeit: „Der Stress war übermächtig geworden. Ich war ein Opfer des eigenen Erfolgs.“Vorübergehend wechselte sie sogar in die australische Cricketliga, spielte Golf und Basketball – ganz das Talent, das in jedem Sport eine ausgezeichnete Figur macht.
Aus dem Hamsterrad des Tennisgeschehens entzog sich Barty auch über längere Zeiträume der CoronaPandemie. Statt unter herausfordernden Bedingungen über die Kontinente zu jetten, blieb die Australierin lieber daheim bei Familie und Freunden. Dass sie nun zurücktrete, sagte Barty, geschehe auch aus dem Gefühl, „dass ich anderen Träumen nachjagen will. Ich bin dankbar für alles, was mir das Tennis gegeben hat. Aber die Zeit ist reif für meinen Rücktritt“. Kein Zweifel aber auch: Die Siege in Wimbledon im vergangenen Jahr und nun in Melbourne im Januar waren zugleich Treibstoff für die Entschei
Barty sagt, ihr fehle die notwendige Energie
Niemand besiegte sie in diesem Jahr
dung der Athletin, die 121 Wochen die Rangliste anführte, 15 Titel gewann (drei Grand Slams) und sich unbesiegt im Jahr 2022 (11:0) vom Tennis entfernte.
Die Würdigungen Bartys waren einmütig am Tag ihres Rücktritts. Würdigungen, die zwangsläufig über Siege und Niederlagen oder Zahlen, Daten und Fakten hinausgingen. Die Amerikanerin Madison Keys brachte das Gefühl im Tennisbetrieb am prägnantesten auf den Punkt: „Du warst nicht nur eine herausragende Sportlerin, sondern vor allem einer der nettesten Menschen auf der Tour.“Einer der „großen Champions“sei Barty, erklärte Steve Simon, der Chef der Spielerinnenorganisation WTA, „wir werden dich sehr vermissen“. Australiens Premierminister Scott Morrison sprach im Namen des ganzen Landes ein „großes Dankeschön“an Barty aus: „Du warst ein Vorbild und wirst es bleiben.“
Ihr Lebensmotto hatte Barty im vergangenen Jahr, als sie wieder auf die Tennistour zurückkehrte, einmal so beschrieben: „Ein guter Mensch zu sein, hat für mich an jedem Tag Priorität.“Nun eben ausschließlich im neuen Privatleben.