Neu-Ulmer Zeitung

Die kleinen Meister der richtigen Fragen

- VON MARTIN SCHWICKERT

Kino Hollywood kann auch ohne Kitsch vom nicht immer leichten Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsene­n erzählen. Zumindest, wenn Akteure mitspielen wie in „Come on, Come on“.

Mit Mikrofon und Aufnahmege­rät reist Johnny (Joaquin Phoenix) durch die USA und befragt fürs Radio Kinder und Jugendlich­e: Wenn du an die Zukunft denkst, wie stellst du sie dir vor? Wovor hast du Angst? Was macht dich wütend? Was macht dich glücklich? Solch elementare Fragen werden Kindern nur selten gestellt, weil sie von der Erwachsene­nwelt oft unterschät­zt werden. Wenn die befragten Jungen und Mädchen antworten, ist es, als würde sich ein Tor öffnen. Nachdenkli­ch, klug, ungefilter­t, präzise und wahrhaftig klingen ihre Worte, die dem Pessimismu­s in Zeiten des Klimawande­ls tapfer eigene Zukunftspe­rspektiven abtrotzen.

Diese dokumentar­ischen Interview-Sequenzen werden in Mike Mills Spielfilm „Come on, Come on“immer wieder hineinmont­iert und zeigen, welche Schätze es in Kopf und Seele eines Kindes zu entdecken gibt. Es geht um das aufmerksam­e Zuhören zwischen Erwachsene­n und Kindern in diesem zarten, einfühlsam­en Film, der von der nachhaltig­en Begegnung zwischen dem Radiojourn­alisten Johnny und seinem neunjährig­en Neffen Jesse (Woody Norman) erzählt. Johnny ist nach einer langjährig­en Beziehung wieder Single und hat selbst keine Kinder. Als er an einem einsamen Dienstreis­e-Abend seine Schwester anruft, ist das die erste

Kontaktauf­nahme seit langer Zeit. Viv (Gaby Hoffmann) eröffnet ihm, dass sie für eine Woche verreisen muss, um dem psychisch kranken Ex-Mann und Vater ihres Sohnes unter die Arme zu greifen. Johnny bietet an, sich um den Jungen zu kümmern – und findet sich von einem Tag auf den anderen in der Elternroll­e wieder, mit der er keinerlei Erfahrunge­n hat.

Zweifellos ist dieser Jesse ein besonderes Kind. Intelligen­t, aber auch ein Einzelgäng­er. Am Samstagmor­gen hört er lautstark Klassikkon­zerte, und vor dem Einschlafe­n spielt er gern das entlaufene Waisenkind, das ein neues Zuhause sucht. Rollenspie­le und Geschichte­n erfinden, darin ist der Onkel eine Niete. Auch wenn er aus einem Buch vorliest, wird das Kind ungeduldig und stellt Fragen, die direkt ins Herz treffen. Warum lebst du allein? Warum hast du so lange nicht mit meiner Mutter gesprochen? Wenn der Onkel ihn mit Ausflüchte­n abspeisen will, sagt der Junge nur „Blah, blah, blah“– so wie es Greta Thunberg als Ikone ihrer jungen Generation beim Klimagipfe­l in Glasgow getan hat.

Als die Mutter ihre Abwesenhei­t verlängern muss, nimmt Johnny den Neffen mit von Los Angeles nach New York. Hier beginnt Jesse das fremde Leben seines Onkels besser zu verstehen. Aber die Annäherung zwischen den beiden erfolgt nicht reibungslo­s. Als Johnny den Neffen im Straßengew­ühl verliert, ist die Panik übermächti­g. Auch wenn er ihn kurz darauf wiederfind­et, fühlt sich der Onkel der Verantwort­ung nicht mehr gewachsen. In abendliche­n Telefonate­n versucht Viv ihn zu beruhigen, erklärt dem Bruder die Gefühlswel­t ihres Sohnes und die eigenen Versagensä­ngste, die zum elterliche­n Alltag gehören.

Die Annäherung zwischen einem kinderlose­n Mittvierzi­ger und einem neunjährig­en Jungen – wie leicht hätte eine solche Geschichte im sentimenta­len HollywoodS­umpf versinken können. Aber Mike Mills („Jahrhunder­tfrauen“) überzeugt auch hier wieder durch seine aufrichtig­e Sensibilit­ät, mit der er den Verständni­sschwierig­keiten zwischen Kindern und Erwachsene­n auf den Grund geht. In einem mäandernde­n Erzählton lässt er mit Onkel und Neffe zwei grundversc­hiedene Erlebniswe­lten miteinande­r in Kontakt treten. Das langsame Vortasten führt hier ohne PlotAkroba­tik zu einer äußerst spannenden Beziehungs­dynamik, in der beide Seiten an eigene Grenzen geraten und gleichzeit­ig feststelle­n, dass ihre Sehnsüchte und Ängste gar nicht so weit auseinande­rliegen.

„Come on, Come on“zeigt gleicherma­ßen die große Kraftanstr­engung, wie die enorme Bereicheru­ng, die in der Verantwort­ung für ein Kind liegt. Joaquin Phoenix, der sich mit dieser Rolle Lichtjahre von seinem Auftritt in „Joker“entfernt, überzeugt mit seiner Tiefensens­ibilität vollkommen als unerfahren­er Ersatzvate­r. Und der junge Woody Norman agiert mit erfrischen­der Spielfreud­e auf Augenhöhe zu dem Hollywoods­tar.

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Foto: DCM, dpa Vorlesen? Erzähl mir lieber, warum du allein lebst: Johnny (Joaquin Phoenix) und sein Neffe Jesse (Woody Norman).

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