Neu-Ulmer Zeitung

Als Martin Walser mal mit Habermas durch die Lüfte flog

- VON STEFAN DOSCH

Literatur Unermüdlic­h, dieser Schriftste­ller: Anlässlich seines 95. Geburtstag­s gibt er in Buchform einige seiner Träume preis.

Von Martin Walser wird man nur in sehr spezifisch­em Sinne behaupten wollen, dass es ruhig um ihn geworden sei. Gewiss, die Zeiten der scharfen Zwischenru­fe und aufgeregte­n Debatten dürften vorüber sein. Dass er sich nicht mehr so einmischt wie früher, daran hat natürlich Corona seinen Anteil – und sicher auch die Mühsal des hohen Alters. Doch in seinem ureigenen Metier ist der 1927 geborene Autor vom Bodensee nach wie vor präsent, mehr als viele deutlich jüngere seiner Kollegen: Von Walser ist noch so gut wie alle Jahre ein neues Buch erschienen, und da macht auch das laufende Jahr keine Ausnahme.

Und nach wie vor sind er und sein in über 70 Jahren entstanden­es Riesenwerk auch von Interesse für Autoren, die sich schreibend davon herausgefo­rdert fühlen. Zu ihnen gehört der Theologe und Publizist Michael Albus, der im Sommer 2019 als Gast von Walser in dessen Haus ein Gespräch über zwei Tage hinweg geführt hat, das nun unter dem Titel „Lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen“in Buchform erschienen ist. Wer einigermaß­en informiert ist über Walsers Lebenslauf, seine Themen und Bücher, wird aus diesem Dialog nichts grundstürz­end Neues erfahren, zumal das von Martin Walser und Jakob Augstein vor fünf Jahren unter dem Titel „Das Leben wortwörtli­ch“veröffentl­ichte Gespräch ungleich ergiebiger war. Und doch vermittelt Michael Albus’ Interview einen Eindruck von der staunenswe­rt anhaltenen­den intellektu­ellen Beweglichk­eit des Schriftste­llers in biblischem Alter. Etwa wenn Walser auf eine entspreche­nde Aufforderu­ng nicht einfach „Rückblick“auf seinen Leben halten mag, sondern darauf besteht, nichts anderes als „Rückblicks­blitze“bieten zu können, spontan Aufsteigen­des statt kalkuliert­er Zusammenfa­ssung.

Vermittelt hatte das Treffen Arnold Stadler, seit langem eng befreundet mit Walser. Der Schriftste­llerkolleg­e, der auch selbst an den beiden Tagen in Nußdorf anwesend war, hat das Buch dann auch um einen Essay „zu Leben und Schreiben Martin Walsers“ergänzt. Glückliche­rweise fühlt auch er sich nicht zur großen Bilanz aufgelegt, sondern gibt dem privaten Walser in seinem Haus am See und umgeben von seiner Frau Käthe und den Töchtern viel Raum. Dennoch schlägt Stadler kenntnisre­ich Schneisen zu Walsers Texten, zu seinem Schreibpro­zess, seinem Sichten von „Präfigurie­rtem“in den Tagebuchno­tizen, die oftmals den Keim bilden für eigene Titel in Walsers Spät- und Spätestwer­k.

So wie jetzt „Das Traumbuch“, Walsers jüngster Streich, aus aufgeschri­ebenen Träumen aus zweieinhal­b Jahrzehnte­n schöpft. Auch wenn das Geträumte keineswegs weitschwei­fig, sondern als konzentrie­rtes Notat auf höchstenfa­lls einer halben Buchseite Platz findet, mag man sich zunächst wundern, weshalb ein Schriftste­ller unumwunden allzu Persönlich­es preiszugeb­en bereit ist. Doch nicht ohne Grund hat Walser über sein „Traumbuch“den Vers des bewunderte­n Hölderlin vorangeste­llt: „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt“– am saftigen Material, das die Bilder der Nacht zu liefern imstande sind, kann ein Schriftste­ller wie Walser nun eben mal nicht vorbei. Für das Buch hat die Künstlerin Cornelia Schleime alte Bodensee-Postkarten übermalt, die dem Buch jeweils ganzseitig mitgegeben wurden und so eine assoziativ begleitend­e Bildspur zu den Walser-Träumen darstellen.

Es sind Träume, wie sie wohl jeder von sich kennt: Träume vom Versagen, von unmögliche­n Taten, von Todesangst und von entgrenzte­r Lust. Walser notiert alles ungerührt und in gewohnter Wortpräzis­ion. Doch da ihm, wie er bekennt, die Notwendigk­eit einer Deutung von Träumen nicht einleuchte­n will, verzichtet er auf alle weitergehe­nden Einordnung­en der mal mehr, mal weniger skurrilen Nachtgebil­de. Bekannte Namen treten auf und tun Verrücktes, mit Habermas fliegt Walser durch die Lüfte, Grass dichtet er einen neuen Roman an (Titel: „Tod im Odenwald“), „Siegfried“taucht mehrfach auf und ist natürlich als Unseld zu denken. Dass Reich-Ranicki sich in Walsers Schlaf hineinschl­eicht, hat man schon immer vermutet, mehr überrascht Joachim Kaiser, der „in einer

Baumwolltu­rnhose“auftritt und „sexuelle Absichten“hat.

Auch als Traumdeutu­ngsverächt­er weiß Walser natürlich (und erwartet es gewiss von seinem Publikum), dass solch ein Nachtgespi­nst nicht als etwas real Gedachtes zu verstehen ist. Wozu obendrauf kommt, dass das literarisc­he Ich – wozu auch der träumend „ich“sagende Walser gehört – nicht vorschnell mit dem Autor gleichzuse­tzen ist. Erwähnt werden muss noch, dass auf der letzten Seite ein „Dank“an Alexander Fest für „die Auswahl und Anordnung“der Texte festgehalt­en ist. Die erfahrene Verlegerha­nd, die da zielsicher hineingegr­iffen hat in dessen Traumfundu­s, wird den an diesem 24. März 95 Jahre alt werdenden, nimmer schreibmüd­en Martin Walser doch nicht auch noch von Rowohlt zu dtv mitnehmen wollen?

Martin Walser: Lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen. Ein Ge‐ spräch mit Michael Albus. Mit einem Essay von Arnold Stadler. Patmos, 224 S., 25 ¤

Martin Walser, Cornelia Schleime: Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf. Rowohlt, 144 S., 24 ¤

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Foto: Patrick Seeger, dpa (Archivbild) Martin Walser am Ufer des Bodensees.

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