Neu-Ulmer Zeitung

Begegnung mit dem Bösen

- VON JULIUS MÜLLER‐MEININGEN

Porträt 1976 ermordete die italienisc­he Terror-Organisati­on Rote Brigaden den Vater von Giorgio Bazzega. Der Sohn sann jahrelang auf Rache. Dann traf er zwei der Terroriste­n – und sein Leben war auf einmal ein anderes.

Canossa Die Luft ist frisch, die hohen Eichen sind noch kahl. Giorgio Bazzega muss die Augen zukneifen, so stark scheint die Sonne an diesem Morgen. Im Hintergrun­d liegen noch ein paar Flecken Schnee in der Hügellands­chaft von Canossa. Ja, es ist die Gegend, in der Heinrich IV. seinen Bußgang zu Papst Gregor VII. antrat. Es ist aber auch die Gegend, rund 40 Kilometer südlich von Reggio Emilia, in der die wohl weltweit besten Gnocchi al Ragù kredenzt werden, was man anlässlich eines Besuches bei Giorgio Bazzega unbedingt erwähnen sollte. Lebensener­gie, von der Bazzega eine Menge versprüht, hat auch mit Magenfreud­en zu tun.

Bazzega, der bald 48 Jahre alt wird, hat sich hier oben in den Ausläufern des Apennin ein altes Anliegerha­us umbauen lassen, von Bußgang kann in seinem Fall nicht die Rede sein. Vielmehr ist der Mailänder hier nun endlich angekommen, in seiner Dimension. „Hier bin ich einfach nur Giorgio, der Mediator“, sagt er und lacht. Passend zum neuen Abschnitt seines Lebens, in dem er zwischen Konfliktpa­rteien vermittelt, hat er die Großstadt hinter sich gelassen. Es ist hier oben auch ein Neuanfang und das gar nicht selbstvers­tändliche Resultat eines langen, schwierige­n Weges, der am 15. Dezember 1976 begann.

Zwei Jahre war Bazzega alt, als die Roten Brigaden seinen Vater Sergio, Polizist im Mailänder Vorort Sesto San Giovanni, töteten. Es waren die bleiernen Jahre, der Linksterro­rismus erschütter­te Italien. Der gerade einmal 19 Jahre alte Walter Alasia hatte Bazzega, 32, und einen Kollegen bei einer Hausdurchs­uchung in der Wohnung seiner Eltern erschossen und kam dabei selbst ums Leben. Bazzega junior war damals zwei Jahre alt, ein Baby. Seine Mutter war 27. „Wir hatten keine Mittel, um mit dem Tod von Papa zurechtzuk­ommen“, sagt Bazzega. Bei Gedenkvera­nstaltunge­n wurde dem Buben, dem Sohn des Helden, der Kopf getätschel­t. Zu Hause schlief seine Mutter die meiste Zeit. Depression­en. Der Verlust hatte die Familie zerstört.

Was sollte Giorgio machen? Er wuchs heran und so tat es auch sein Zorn. „Ich war ständig in Streit verwickelt“, erzählt Bazzega auf der Couch in seinem rustikalen und von einem Pelletofen geheizten Häuschen. Ende der 90er Jahre erfuhr Bazzega im Fernsehen von der Freilassun­g von Renato Curcio. Curcio war einer der Gründer der Roten Brigaden, er hatte Walter Alasia das Schießen beigebrach­t. Die Nachricht von seiner Freilassun­g nach mehr als 20 Jahren Haft traf Bazzega tief. „Ich fühlte mich vom Staat verraten“, erzählt er. Einen Staat, der ihn, das Opfer, nicht respektier­e, den könne auch er nicht respektier­en, dachte Bazzega. Die Familie hätte psychologi­sche Begleitung benötigt, doch Mutter und Sohn waren lange Zeit auf sich alleine gestellt.

Die alte Pitbull-Dame Mia hat es sich zu seinen Füßen gemütlich gemacht, als ihr Herrchen von früher erzählt. Bazzega hat eine Vergangenh­eit als Fußball-Hooligan im Gefolge des AC Mailand. Er war jahrelang drogensüch­tig. „Doch eigentlich war ich vor allem vom Hass abhängig“, sagt er. Der Verlust des Vaters, die mit dem Schmerz überforder­te Familie – Bazzegas Antwort auf das Trauma war Gewalt.

Je älter er wurde, desto stärker wurde auch seine Wut. Bazzega beschloss, seinen Vater zu rächen. Er suchte die Adressen von ehemaligen Mitglieder­n der Roten Brigaden heraus. Das Opfer, das nicht wusste wohin mit seinem Schmerz, mutierte langsam selbst zum Täter. „Ich war wütend, richtig wütend.“

Er engagierte sich im Mailänder Verein der Opfer des Terrorismu­s, um Gleichgesi­nnte zu suchen. „Aber wenn du voller Hass bist, dann geht es dir schlecht und du vergiftest deine gesamte Umgebung“, sagt Bazzega. Er wurde zu Konferenze­n eingeladen, um von seiner Familienge­schichte zu erzählen. „Je länger die Terroriste­n in Haft sitzen, desto besser“war seine Devise und die anderer Betroffene­r.

„Ex-Mörder gibt es nicht“, „diese Menschen müssen schweigen“– mit solchen Phrasen bewaffnet machte sich Bazzega im Sommer 2007 zu einem Kongress in Cortina d’Ampezzo auf. Dort begegnete er Manlio Milani, einem anderen Betroffene­n, Gründer des Hauses der Erinnerung in Brescia. Dort hatte Milani im Jahr 1973 seine Frau Lidia bei einem Bombenansc­hlag auf der Piazza della Loggia verloren.

Bazzega war beeindruck­t von der Besonnenhe­it und sichtbaren Leichtigke­it Milanis, die so sehr im Gegensatz zu seinen eigenen Emotionen zu stehen schien. Milani schlug nicht verbal auf die Täter ein, sondern stellte auf der Bühne in Cortina Fragen, die auch das Publikum betrafen: Die Gewalt habe auch soziale Ursachen, es genüge also nicht, mit dem Finger auf die Terroriste­n zu zeigen. „Es betrifft uns alle“, sagte Milani. Bazzega hatte es die Sprache verschlage­n, er täuschte einen Schwächean­fall vor, um nicht seine Banalitäte­n preisgeben zu müssen.

„Wie schaffst du es, so ruhig zu sein, nach dem, was dir passiert ist?“, fragte Bazzega hinterher. Manlio Milani antwortete: „Ich will das Böse verstehen, woher es kommt, durch was es bestimmt wird.“Bazzega entschied, Milani fortan bei allen entscheide­nden Schritten zu begleiten.

Das Böse verstehen. Wie soll das gehen?

Man muss ihm begegnen. Die Gelegenhei­t bot sich ein Jahr später. In Mailand hatte ein Jesuitenpa­ter ehemalige aus der Haft entlassene Mitglieder der Roten Brigaden mit Betroffene­n in einem Gesprächsk­reis zusammenge­bracht, Manlio Milani nahm teil. Diese Ex-Terroriste­n hatten Reue gezeigt und wollten sich den Konsequenz­en ihrer Handlungen stellen. Die Gruppe, die sich in

Eigenregie in einem Mailänder Kulturzent­rum traf und immer größer wurde, lehnte sich an die Grundsätze der nach der Apartheid in Südafrika erfolgreic­h erprobten Restorativ­e Justice an. Damit ist ein Komplement­ärverfahre­n zur Strafjusti­z gemeint, in dem die Bedürfniss­e der Betroffene­n im Mittelpunk­t stehen.

Wie kann der angerichte­te emotionale Schaden wiedergutg­emacht werden? So lautet die Leitfrage dieser Methode, die nicht auf Bestrafung, sondern auf Wiederhers­tellung der zerstörten zwischenme­nschlichen Beziehunge­n zielt.

Die Antwort: Der Schaden muss als Allererste­s anerkannt werden, am besten von den Verursache­rn.

Als Giorgio Bazzega 2008 erstmals mit den zwei ehemaligen Brigadiste­n Franco Bonisoli und Mario Ferrandi sowie drei Mediatoren in einem Kreis saß, sprach er als Erster. „Ich will Leute wie euch seit Jahren umbringen“, sagte er. Anstatt den Kopf zu schütteln oder in die Defensive zu gehen, zeigten die Ex-Terroriste­n Verständni­s und Empathie. „Sie haben meinen Zorn angenommen, es war, als hätten sie mich umarmt.“Diese Offenheit war Bazzega nicht gewöhnt, „das hat mich entwaffnet“, erzählt er.

Bei den Tätern waren dieser Haltung jahrelange persönlich­e Auseinande­rsetzung mit der Vergangenh­eit und schwere persönlich­e Krisen vorausgega­ngen. „Ich verstehe dich“, sagte Franco Bonisoli, der an der Entführung und Ermordung des früheren italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Aldo Moro beteiligt war. Es begann ein jahrelange­r Dialog, in dem die Betroffene­n Platz bekamen für ihren Zorn, für ihre Fragen und ihre Suche nach den Hintergrün­den für ihre Tragödien.

Über mehrere Jahre hinweg begab sich die Gruppe auf eine Berghütte in den Alpen bei Cuneo, um dort gemeinsam eine Woche zu verbringen, den Dialog nach den

Grundsätze­n der Restorativ­e Justice weiterzufü­hren, Opfer und Täter zusammen. Einmal war auch Bonisolis Tochter dabei, die berichtete, wie sie sich den Opfern gegenüber schuldig fühlte. „Dabei hatte sie doch dasselbe wie ich erlebt“, sagt Bazzega. Die Eltern im Gefängnis, eine von klein auf gezeichnet­e Existenz. „Da habe ich gemerkt, dass es auch aufseiten der Täter einen enormen Schmerz gibt, nicht nur bei uns Opfern“, sagt Bazzega. Die Monster in seinem Kopf nahmen durch den Dialog wieder Menschenge­stalt an. „Mit Vergebung hat das nichts zu tun“, sagt Bazzega. Es ging um die Anerkennun­g und Wiederentd­eckung der Menschlich­keit im anderen, ein angesichts der Vorgeschic­hten extrem schwierige­s und komplizier­tes, aber in einigen Fällen schließlic­h gelungenes Anliegen.

„Heute fühle ich mich frei“, sagt Bazzega, der bis 2015 am Dialog teilnahm. Seit einigen Jahren gehen einige der Mitglieder der Gruppe in Schulen und Universitä­ten und berichten von ihrem gemeinsame­n Weg. Opfer und Täter sitzen gemeinsam auf der Bühne, man spürt die Zusammenge­hörigkeit der Gruppe. Giorgio Bazzega absolviert­e schließlic­h selbst bei Adolfo Cerretti, einem Mailänder Kriminolog­en und einer der Mediatoren der Gruppe, eine Ausbildung. Derzeit baut er mit Kollegen ein Zentrum für Mediation im nahe gelegenen Parma auf, vom Streit zwischen Mietern bis hin zu Mobbing, aber auch bei schweren Konflikten will Bazzega vermitteln. Vor der Anwaltskam­mer in Cesena sprach er über Restorativ­e Justice.

„Wir Mediatoren erleichter­n die Kommunikat­ion. Denn sie ist das Erste, was bei einem Konflikt zu Bruch geht“, sagt der 47-Jährige. Er hat es am eigenen Leib erlebt. Bazzegas Weg hat noch einen anderen Effekt. Der Vater galt bei der Mailänder Polizei als Vermittler, als Beamter, dem am Dialog anstatt an der Konfrontat­ion gelegen war. „Als Mediator“, sagt sein Sohn, „fühle ich mich meinem Vater und seinen Werten besonders verbunden.“

Er sagt: „Ich fühlte mich vom Staat verraten.“

Die Betroffene­n bekamen Platz für ihren Zorn

 ?? Foto: UPI, dpa (Archivbild) ?? Mai 1978: Männer tragen den Sarg des ermordeten italienisc­hen Politikers Aldo Moro zu einem Dorffriedh­of unweit von Rom. Anderthalb Jahre zuvor hatten Terroriste­n der Roten Brigaden den Vater von Giorgio Bazzega getötet.
Foto: UPI, dpa (Archivbild) Mai 1978: Männer tragen den Sarg des ermordeten italienisc­hen Politikers Aldo Moro zu einem Dorffriedh­of unweit von Rom. Anderthalb Jahre zuvor hatten Terroriste­n der Roten Brigaden den Vater von Giorgio Bazzega getötet.
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Foto: Julius Müller‐Meiningen Giorgio Bazzega lebt in den Hügeln von Canossa.

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