Gemeinsam gegen Wladimir Putin
Gipfel Das gab es noch nie: In Brüssel treffen sich an einem Tag die Nato-Partner, die EU-Mitglieder und die größten Wirtschaftsnationen. In allen Gesprächen geht es um dasselbe Thema: Wie lässt sich Russland aufhalten?
Brüssel Vor dutzenden Fotografen begrüßten sich der französische Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi betont herzlich, während Großbritanniens Boris Johnson etwas verloren herumstolperte. Als schon alle Staats- und Regierungschefs versammelt waren, stießen US-Präsident Joe Biden und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg dazu. Hier Small Talk, dort ein Schulterklopfen. Es lief selbst an diesem historischen Tag so, wie es immer bei solchen Gipfeln läuft, bevor man sich zum sogenannten traditionellen Familienfoto aufstellt. Nur einer fehlte um 10 Uhr: Kanzler Olaf Scholz.
Wegen Gesprächen über die Energiepreise im Koalitionsausschuss kam er am Donnerstag zu spät zum außerordentlichen NatoGipfel nach Brüssel. Eine Randnotiz? Während die meisten Fotos solcher Gipfel eher im Tagebuch mancher Politiker landen dürften, war dies tatsächlich ein Bild für die Geschichtsbücher. Denn es ging vor allem um Symbolik an diesem Tag, an dem gleich drei Spitzentermine stattfanden: am Vormittag NatoGipfel, am Nachmittag Gipfel der führenden demokratischen Wirtschaftsmächte (G7), danach EUGipfel. Das gab es noch nie.
Und auch wenn neue Sanktionen, eine Stärkung der Nato-Ostflanke sowie eine weitere militärische Unterstützung für die Ukraine beschlossen wurden – der Westen wollte vor allem ein starkes Zeichen setzen. Man präsentierte sich im Schulterschluss zusammen gegen den Aggressor, Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Dafür reiste extra Biden an. Er wollte einerseits demonstrieren, dass die USA an der Seite Europas stehen. Andererseits gerät der USDemokrat zunehmend unter Druck, die derzeitige Geschlossenheit zu bewahren. „Das Wichtigste ist, dass wir geeint bleiben“, sagte Biden denn auch. Es klang wie ein Appell an die Verbündeten. Denn hinter den Kulissen beginnt die Geschlossenheit zu bröckeln.
So fordern Länder wie Estland, dass die Nato-Partner dem Wunsch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Panzern und Kampfflugzeugen nachkommen. Doch die USA oder Deutschland befürchten, Putin könnte die Lieferung von Kampfflugzeugen als Kriegsbeteiligung der Nato werten. Die Allianz will einen Flächenbrand unbedingt vermeiden. Immerhin: Nachdem die Bündnisvertreter laut Biden das „Privileg“hatten, mit Selenskyj per Videoschalte zu sprechen, habe man sich auf weitere Hilfe verständigt, damit die Ukraine ihr Grundrecht auf Selbstverteidigung ausüben könne, hieß es.
Der Nato-Gipfel fand exakt einen Monat nach der Invasion Russlands statt. Und die Antwort der 30 Bündnisstaaten auf Putins Gewalt lautet: massive Aufrüstung. So wurden an der Ostflanke unter anderem 40.000 Soldaten dem direkten Kommando der Nato unterstellt. Außerdem richtet die Allianz vier zusätzliche multinationale Gefechtsverbände in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn ein.
Während westliche Militärexperten zu Beginn noch von einer zügigen Niederlage der Ukraine ausgegangen waren, zweifeln sie angesichts des Verteidigungswillens der Angegriffenen, ausgestattet mit Waffenlieferungen aus dem Westen, zunehmend daran, ob es Russland überhaupt gelingen kann, die Hauptstadt Kiew einzunehmen – ohne zu noch verheerenderen Waffen zu greifen.
Stockt der Vormarsch Russlands aber tatsächlich? Im Kreis der Nato jedenfalls nehmen die Sorgen zu, dass Putin die Lage weiter eskalieren könnte. Das Bündnis will deshalb der Ukraine „zusätzliche Unterstützung“gewähren, einschließlich Hilfe bei der Cybersicherheit und Ausrüstung zum „Schutz vor chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen“, wie Stoltenberg sagte. Doch wo würde die rote Linie des Westens verlaufen? Biden warnte die russische Armee vor einem Einsatz chemischer Waffen in der Ukraine. Sollte es dazu kommen, werde es eine „entsprechende Antwort“der Nato geben. Welche, ließ er offen.
Beim EU-Gipfel, der am frühen Abend begann, herrschten insbesondere bei der Frage, wie weit die Sanktionen gehen sollen, Spannungen. Während die baltischen Staaten, Polen oder Irland beispielsweise einen Importstopp für Gas oder Öl verlangen, lehnen Länder wie Deutschland, aber auch die Niederlande, Ungarn, Österreich und Italien das ab – noch. Denn die Rufe nach einem Embargo werden immer lauter. Kritiker bemängeln, dass die Geschäfte mit Rohstoffen jeden Tag dreistellige Millionenbeträge in Putins Kriegskasse spülen.
Geeinigt haben sich die Verbündeten auf Maßnahmen, mit denen man die Schlupflöcher der bislang verhängten Sanktionen stopfen will. So soll etwa jede Transaktion mit Gold im Zusammenhang mit der russischen Zentralbank mit Sanktionen belegt werden. Die G7 und die EU wollen so verhindern, dass die russische Zentralbank internationale Reserven – einschließlich Gold – einsetzt, um die russische Wirtschaft zu stützen. Biden schwörte seine Amtskollegen auf einen langen Atem ein. Er plädierte zudem für einen Ausschluss Russlands aus der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer.