Deutschlands Image hat mehr als Kratzer
Es mag für manche Beobachter nur eine Randnotiz gewesen sein, dass Olaf Scholz zu spät zum Nato-Gipfel erschien und deshalb auf dem Familienfoto der 30 Bündnispartner fehlte. Die Episode aber fasst ein Problem der derzeitigen Bundesregierung zusammen: Es handelt von Prioritäten und betrifft insbesondere die Außenwahrnehmung. Beim ersten Spitzentreffen des Tages ging es darum, als Westen demonstrativ zusammenzustehen. Man mag die Symbolpolitik als unwichtig kritisieren, während Menschen in der Ukraine sterben. Doch sie spielt neben Aufrüstung und Sanktionen gegen Russland dennoch eine bedeutende Rolle gegen Wladimir Putin, dessen Ziel es ist, die Verbündeten auseinanderzutreiben. Der Westen also wollte ein Zeichen der Stärke aussenden im Kampf um Frieden und Freiheit mitten in Europa – und der Kanzler kommt zu spät wegen Koalitionsstreitereien um Tankpreise?
Die Botschaft ist miserabel, passt aber ins Bild vieler Kritiker: Wahlweise als heuchlerisch, egoistisch oder arrogant wird Berlin von zahlreichen Menschen derzeit wahrgenommen angesichts der zögerlichen Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands. Keine Rede davon, dass die größte Volkswirtschaft Europas eine Führungsrolle in dieser
Krise übernimmt. Vielmehr schaut die Welt zu, wie Berlin seit Wochen nur reagiert statt zu agieren. Und am Ende angesichts des
Drucks der internationalen Gemeinschaft meist doch keine andere
Wahl hat als sich zu fügen, wie geschehen im Falle von Waffenlieferungen oder bei Nord Stream 2. Der Imageschaden ist da längst angerichtet. Hinter den Kulissen wüten Vertreter anderer europäischen Staaten zurecht. So viel zur Zeitenwende, die man in Deutschland gerade bejubelt. Derzeit scheint es eher so, als ob sich die großen Worte der Solidarität in Richtung Ukraine allzu schnell im Nebel der Realpolitik auflösen, wenn die Folgen zu teuer werden.