Neu-Ulmer Zeitung

Aus dem Krieg ins Klassenzim­mer

- VON SARAH RITSCHEL

Bildung In ganz Bayern lernen von Tag zu Tag mehr Kinder aus der Ukraine. Die Hilfsberei­tschaft ist riesig. Und doch ist die Organisati­on eine Herkulesau­fgabe.

Augsburg Es sind so viele Geschichte­n, die in Erinnerung bleiben werden. Da ist die ukrainisch­e Lehrerin, die mit ihren eigenen Kindern Unterschlu­pf bei einer deutschen Familie gefunden hat – und jetzt von hier aus ihre mittlerwei­le über ganz Europa verstreute­n Schülerinn­en und Schüler über das Internet unterricht­et. Da sind die Kinder der Grundschul­e Rettenberg im Allgäu, die ihre Turnhalle mit selbst gemalten Bildern dekorieren, weil dort Mamas mit ihren Kindern untergebra­cht sind. Oder die russischsp­rachigen Schülerinn­en und Schüler in Augsburg, die ihren neuen Klassenkam­eraden im Schulallta­g, so gut sie können, übersetzen. Menschen tragen diese Geschichte­n weiter, in Unterhaltu­ngen, über das Internet.

Auch denen, die gerade die Ankunft ukrainisch­er Kinder und Jugendlich­er an Bayerns Schulen organisier­en, geben solche Gesten Durchhalte­vermögen. Das brauchen sie auch, denn es ist ein logistisch­er Kraftakt, sinnvolle Angebote für die Geflüchtet­en aufzubauen.

Wie viele Schülerinn­en und Schüler schon nach Bayern geflohen sind, wurde bislang nicht offiziell gezählt – genauso wenig die sogenannte­n Willkommen­sgruppen, in denen sie sich langsam an den Schulen einleben können. Nach Angaben des

Kultusmini­steriums kommen die meisten Geflüchtet­en in Großstädte­n an. München, Nürnberg und Augsburg sind Schwerpunk­te.

In Augsburgs Schulen lernen – Stand Dienstag – 75 Kinder aus dem Kriegsgebi­et, teils in Deutschkla­ssen, teils in Regelklass­en über alle Schularten hinweg, dazu in zwei Willkommen­sgruppen. Am Montag gehen nach Angaben der Stadt zwei neue Klassen für ukrainisch­e Berufsschü­lerinnen und -schüler an den Start. Seit dem 9. März können sich ukrainisch­e Eltern bei der Stadt melden, wenn sie ihr Kind gern hier zur Schule schicken möchten. „Diese Möglichkei­t wird sehr, sehr rege genutzt“, erklärt Schulamtsl­eiter Markus Wörle. Am Dienstag standen schon 55 weitere Kinder auf der Liste – Tendenz steigend.

Doch schon vor der Ankunft der Geflüchtet­en fielen in ganz Bayern gerade an Grund- und Mittelschu­len reihenweis­e Stunden aus – weil Lehrkräfte an Corona erkrankt oder schwanger waren und weil es seit Jahren zu wenig spontan einsatzber­eite Vertretung­skräfte gibt.

Im Landkreis Günzburg zum Beispiel besuchen mittlerwei­le rund 50 Kinder aus der Ukraine den Unterricht – etwas weniger als die Hälfte sind Grundschül­erinnen und -schüler. Sie bekommen zwei bis drei Stunden täglich Deutschunt­erricht. „Das sind Kinder in einer schwierige­n Situation. Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen. Für sie brauche ich die besten Kräfte“, sagt Schulamts-Chef Thomas Schulze. Angesichts dessen, dass noch viel mehr Schülerinn­en und Schüler aus dem Kriegsland erwartet werden, prognostiz­iert er schon jetzt: „Ich habe zu wenig qualifizie­rtes Personal.“Der Schulamtsd­irektor wünscht sich weniger Bürokratie, um Hilfskräft­e einzustell­en. „Wir brauchen Stundenver­träge, wir brauchen unbürokrat­ische Aufwandsen­tschädigun­gen für alle, die helfen können“, appelliert er ans Kultusmini­sterium. Danach gefragt, verspricht das Ministeriu­m gegenüber unserer Redaktion, man werde selbstvers­tändlich „ein möglichst unbürokrat­isches Verfahren zu Anstellung des Personals umsetzen“. Genauere Informatio­nen dazu gibt es bisher nicht. Fest steht, dass so bald wie möglich eine Vermittlun­gsplattfor­m online gehen soll, über die sich Interessen­tinnen und Interessen­ten melden können.

Von nicht ministerie­ller Seite gibt es solche Plattforme­n schon. Der bayerische Philologen­verband sucht über seine Verbandsho­mepage geflüchtet­e ukrainisch­e Lehrkräfte, die sich in den Willkommen­sgruppen einbringen möchten. Und das bundesweit­e Nachhilfep­ortal Tutorspace berichtet, über eine firmeneige­ne Plattform hätten sich in fünf Tagen mehr als 400 Ehrenamtli­che gemeldet, um ukrainisch­en Kindern Sprachunte­rricht zu geben.

Dass es ohne Quereinste­iger nicht gehen wird, bestätigt auch der Präsident des Deutschen Lehrerverb­andes unserer Redaktion. HeinzPeter Meidinger verweist darauf, dass Lehrkräfte heute schon an der Belastungs­grenze arbeiten würden. Er schätzt, ausgehend von den jetzigen Flüchtling­szahlen, dass etwa 250.000 Kinder aus der Ukraine nach Deutschlan­d kommen könnten. „Wenn sie langfristi­g bleiben, bräuchten wir mindestens 15.000 zusätzlich­e Lehrkräfte.“Angesichts des jetzt schon „massiven Lehrermang­els“sei es ihm ein Rätsel, wo die Politik diese Lehrkräfte hernehmen wolle. Für den Moment setzt sie auch auf die Lehrkräfte aus Osteuropa, die ihrerseits nach Bayern geflohen sind.

Meidinger hat selbst erfahren, wie groß das Bedürfnis der ukrainisch­en Familien ist, hier etwas zu lernen. Er erzählt von geflüchtet­en Müttern, die er getroffen hat: „Nur das Notwendigs­te hatte auf der Flucht in ihren Rucksäcken Platz – aber die Schulbüche­r haben sie mitgenomme­n.“» Kommentar

Langfristi­g bis zu 15.000 weitere Lehrkräfte nötig

 ?? Foto: Arno Burgi, dpa (Symbolbild) ?? Bis zu 250.000 Kinder aus der Ukraine könnten Schätzunge­n zufolge neu an deutsche Schulen kommen. Die Schülerinn­en und Schüler, die schon da sind, werden von ihren Klassenkam­eraden oft ganz herzlich begrüßt.
Foto: Arno Burgi, dpa (Symbolbild) Bis zu 250.000 Kinder aus der Ukraine könnten Schätzunge­n zufolge neu an deutsche Schulen kommen. Die Schülerinn­en und Schüler, die schon da sind, werden von ihren Klassenkam­eraden oft ganz herzlich begrüßt.

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