Normal gibt’s im Pop nicht
Musik Elton John wird 75 und die Band Placebo legt ein neues Album vor: Beide gehören in den Kanon einer sehr aktuellen Konfliktgeschichte über die Gesellschaft und ihre Stars.
In der musikalischen Gegenwart ist die Diversität der Geschlechtermodelle alltäglich sichtbar. Von einem Helden der Härte wie Keith Caputo an der Spitze der Metalband Life of Agony, der sich vor Jahren zu seinem Transfrau-Sein bekannt hat und nun Mina heißt, bis zur zarten Songwriterin Kate Tempest, die sich nun Kae nennt und als non-binär zu erkennen gibt; stilistisch irgendwo dazwischen all die Bekenntnisse von Stars wie Lil Nas X und Miley Cyrus, Sam Smith und Ricky Martin, vor allem eines nicht zu sein: „straight“. Wie das eben heißt, wenn vermeintlich normal Immerschon-Mann und Immer-schonFrau einander exklusiv als Liebespartner suchen. Aber vielfältig gegenteilig „queer“– das gehört immer schon zum Mainstream.
Was im Konkreten also wie ein Zufall scheinen mag, ist keiner. Mit Elton John feiert einer der Stars, die neben Freddie Mercury und George Michael zu den erfolgreichsten Sängern der Popgeschichte überhaupt gehören und sich irgendwann zu ihrer Homosexualität bekannt haben, seinen 75. Geburtstag; und mit einem genau an diesem Tag auch erscheinenden Album setzt die Band Placebo ihre Erfolgsgeschichte fort, die vor gut 25 Jahren schon damit begonnen hat, dass sich Sänger Brian Molko, nicht von ungefähr früh gefördert von David Bowie, als androgyner Typ samt Schminke und Kleidern offensiv in Szene setzte und auch seine Bi-Sexualität offen thematisierte. Es ist einfach die unweigerliche Überschneidung weit verzweigter Traditionslinien, die in diesen beiden Protagonisten auch nicht zufällig auf eine gemeinsame Wurzel zurückverweist. Elton John nannte als seinen größten Einfluss diesen Namen, Brian Molko erzählt, wie er mit Bowie nicht selten voller Staunen und Bewunderung auf diesen Vorgänger blickte: Little Richard. Jener erst vor zwei Jahren in hohem Alter gestorbene Mitbegründer des Rock ’n’ Roll also, der bereits in Aussehen und Auftreten eine geschlechtliche Ambivalenz zeigte, die in Anverwandlungen zu späteren Ikonen wie Marc Bolan oder Prince führt. Um für hier nur mal die Seite der Popstar-Leben zu beleuchten, die mit der Zuordnung als Mann begonnen haben und sich dann gegen die damit als vermeintliche Normalität verbundenen Zuordnungen entwickelt haben.
Die Rückseite dieser Tradition ist freilich der Umgang mit der Queerness. Little Richard lernte früh die bitterste Lektion, als ihn sogar die eigene pfingstkirchlich geprägte Familie wegen seiner Homosexualität verstieß. Elton John brauchte lange, bis er sich fast 20 Jahre nach seinem Debütalbum „Empty Sky“1988 doch noch outete – nachdem sich auch die eigene letzte Hoffnung auf eine Art Lösung oder gar Heilung zerschlagen hatte, als seine Ehe mit der deutschen Tontechnikerin Renate Blauel scheiterte. Damals fiel noch die britische Boulevardpresse skandalgeifernd über ihn her und wollte von homosexuellen Orgien erfahren haben, in die der Star verwickelt gewesen sei.
Heute reist Elton John seit Jahren in einer einzigen großen Abschiedstournee um die Welt, wird samt seiner schrillen Brillen und Anzüge überall geliebt und gefeiert – womöglich bis zum endgültigen Abschied Ende dieses Jahres bei einem Konzert in Finnland, mit „Rocket Man“und „I’m Still Standing“und „Your Song“und alledem, längst ein Evergreen. Ein letztes Mal erregte seine Orientierung wohl vor gut zehn Jahren noch einmal Aufsehen, als er sich mit Langzeitpartner und mittlerweile Ehemann David Furnish und dem ersten der inzwischen zwei gemeinsam adoptierten Babys auf einem Illustrierten-Cover zeigte. In durchaus auch gesellschaftlich engagierter Mission, um als Sympathieträger von Millionen weltwelt für die Akzeptanz solcher Lebensmodelle zu werben.
Bei Brian Molko und Placebo stand die Offenbarung gleich am Beginn – und durchaus als Provokation. Es gehört unverwechselbar zur Geschichte dieser Band, dass mit „Nancy Boy“gleich in ihrem ersten bekannt werdenden Song Brian Molko mit der typisch metallischnasalen Stimme und im Video mit Lippenstift von einem schwulen Jungen mit nächtlich wechselnden Partnern erzählt. Scham? Der zeigte er zwei Jahre später auf dem Cover der Musikzeitschrift Select dann gleich mal die extra zu blutroten Lippen und pechschwarzem Bob freigelegten Nippel. Als ikonische Reverenz wirkten hier freilich immer The Cure. Aber bereits in frühen Erfolgen wie dem Überhit „Every Me and Every You“im Soundtrack zu „Eiskalte Engel“und zwischen Wut und Melancholie triumphierenden Alben wie „Black Market Music“prägten Placebo doch sofort einen eigenen Stil mit eigenen Inhalten, mitten hinein in den männersoundsatten Brit-Pop-Hype der Neunziger. Man würde das heute queer nennen. Und zeitgemäß.
So passt ein schönes schwules Liebeslied wie „Beautiful James“, das sich auf „Never Let Me Go“, dem neuen, achten Album nun findet, zu ihren Anfängen wie in die gesellschaftliche Gegenwart. Aber Brian Molko, der dieses Jahr 50 wird und inzwischen mit Bassist Stefan Olsdal zum Duo geschrumpft ist, gelingt es mit Gesang und Gitarre nicht nur ein weiteres Mal, dem Songkatalog einzelne Perlen hinzuzufügen (rockig: „Forever Chemicals“; Mid-Tempo: „The Prodigal“; Powerballade: „This Is What You Wanted“). Placebo wandeln sich auch zu neuer zeitgemäßer Wut, zu Öko-Katastrophe („Try Better Next Time“) und Datenkraken („Surrounded By Spies“). Denn mit dem Stachel der Queerness gegen einen straighten Mainstream zu löcken und darüber selbst zum Mainstream zu werden – diese Geschichte scheint spätestens mit ihrer eigenen glücklich auserzählt.
Die gemeinsame Wurzel: Little Richard