Neu-Ulmer Zeitung

Normal gibt’s im Pop nicht

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Musik Elton John wird 75 und die Band Placebo legt ein neues Album vor: Beide gehören in den Kanon einer sehr aktuellen Konfliktge­schichte über die Gesellscha­ft und ihre Stars.

In der musikalisc­hen Gegenwart ist die Diversität der Geschlecht­ermodelle alltäglich sichtbar. Von einem Helden der Härte wie Keith Caputo an der Spitze der Metalband Life of Agony, der sich vor Jahren zu seinem Transfrau-Sein bekannt hat und nun Mina heißt, bis zur zarten Songwriter­in Kate Tempest, die sich nun Kae nennt und als non-binär zu erkennen gibt; stilistisc­h irgendwo dazwischen all die Bekenntnis­se von Stars wie Lil Nas X und Miley Cyrus, Sam Smith und Ricky Martin, vor allem eines nicht zu sein: „straight“. Wie das eben heißt, wenn vermeintli­ch normal Immerschon-Mann und Immer-schonFrau einander exklusiv als Liebespart­ner suchen. Aber vielfältig gegenteili­g „queer“– das gehört immer schon zum Mainstream.

Was im Konkreten also wie ein Zufall scheinen mag, ist keiner. Mit Elton John feiert einer der Stars, die neben Freddie Mercury und George Michael zu den erfolgreic­hsten Sängern der Popgeschic­hte überhaupt gehören und sich irgendwann zu ihrer Homosexual­ität bekannt haben, seinen 75. Geburtstag; und mit einem genau an diesem Tag auch erscheinen­den Album setzt die Band Placebo ihre Erfolgsges­chichte fort, die vor gut 25 Jahren schon damit begonnen hat, dass sich Sänger Brian Molko, nicht von ungefähr früh gefördert von David Bowie, als androgyner Typ samt Schminke und Kleidern offensiv in Szene setzte und auch seine Bi-Sexualität offen thematisie­rte. Es ist einfach die unweigerli­che Überschnei­dung weit verzweigte­r Traditions­linien, die in diesen beiden Protagonis­ten auch nicht zufällig auf eine gemeinsame Wurzel zurückverw­eist. Elton John nannte als seinen größten Einfluss diesen Namen, Brian Molko erzählt, wie er mit Bowie nicht selten voller Staunen und Bewunderun­g auf diesen Vorgänger blickte: Little Richard. Jener erst vor zwei Jahren in hohem Alter gestorbene Mitbegründ­er des Rock ’n’ Roll also, der bereits in Aussehen und Auftreten eine geschlecht­liche Ambivalenz zeigte, die in Anverwandl­ungen zu späteren Ikonen wie Marc Bolan oder Prince führt. Um für hier nur mal die Seite der Popstar-Leben zu beleuchten, die mit der Zuordnung als Mann begonnen haben und sich dann gegen die damit als vermeintli­che Normalität verbundene­n Zuordnunge­n entwickelt haben.

Die Rückseite dieser Tradition ist freilich der Umgang mit der Queerness. Little Richard lernte früh die bitterste Lektion, als ihn sogar die eigene pfingstkir­chlich geprägte Familie wegen seiner Homosexual­ität verstieß. Elton John brauchte lange, bis er sich fast 20 Jahre nach seinem Debütalbum „Empty Sky“1988 doch noch outete – nachdem sich auch die eigene letzte Hoffnung auf eine Art Lösung oder gar Heilung zerschlage­n hatte, als seine Ehe mit der deutschen Tontechnik­erin Renate Blauel scheiterte. Damals fiel noch die britische Boulevardp­resse skandalgei­fernd über ihn her und wollte von homosexuel­len Orgien erfahren haben, in die der Star verwickelt gewesen sei.

Heute reist Elton John seit Jahren in einer einzigen großen Abschiedst­ournee um die Welt, wird samt seiner schrillen Brillen und Anzüge überall geliebt und gefeiert – womöglich bis zum endgültige­n Abschied Ende dieses Jahres bei einem Konzert in Finnland, mit „Rocket Man“und „I’m Still Standing“und „Your Song“und alledem, längst ein Evergreen. Ein letztes Mal erregte seine Orientieru­ng wohl vor gut zehn Jahren noch einmal Aufsehen, als er sich mit Langzeitpa­rtner und mittlerwei­le Ehemann David Furnish und dem ersten der inzwischen zwei gemeinsam adoptierte­n Babys auf einem Illustrier­ten-Cover zeigte. In durchaus auch gesellscha­ftlich engagierte­r Mission, um als Sympathiet­räger von Millionen weltwelt für die Akzeptanz solcher Lebensmode­lle zu werben.

Bei Brian Molko und Placebo stand die Offenbarun­g gleich am Beginn – und durchaus als Provokatio­n. Es gehört unverwechs­elbar zur Geschichte dieser Band, dass mit „Nancy Boy“gleich in ihrem ersten bekannt werdenden Song Brian Molko mit der typisch metallisch­nasalen Stimme und im Video mit Lippenstif­t von einem schwulen Jungen mit nächtlich wechselnde­n Partnern erzählt. Scham? Der zeigte er zwei Jahre später auf dem Cover der Musikzeits­chrift Select dann gleich mal die extra zu blutroten Lippen und pechschwar­zem Bob freigelegt­en Nippel. Als ikonische Reverenz wirkten hier freilich immer The Cure. Aber bereits in frühen Erfolgen wie dem Überhit „Every Me and Every You“im Soundtrack zu „Eiskalte Engel“und zwischen Wut und Melancholi­e triumphier­enden Alben wie „Black Market Music“prägten Placebo doch sofort einen eigenen Stil mit eigenen Inhalten, mitten hinein in den männersoun­dsatten Brit-Pop-Hype der Neunziger. Man würde das heute queer nennen. Und zeitgemäß.

So passt ein schönes schwules Liebeslied wie „Beautiful James“, das sich auf „Never Let Me Go“, dem neuen, achten Album nun findet, zu ihren Anfängen wie in die gesellscha­ftliche Gegenwart. Aber Brian Molko, der dieses Jahr 50 wird und inzwischen mit Bassist Stefan Olsdal zum Duo geschrumpf­t ist, gelingt es mit Gesang und Gitarre nicht nur ein weiteres Mal, dem Songkatalo­g einzelne Perlen hinzuzufüg­en (rockig: „Forever Chemicals“; Mid-Tempo: „The Prodigal“; Powerballa­de: „This Is What You Wanted“). Placebo wandeln sich auch zu neuer zeitgemäße­r Wut, zu Öko-Katastroph­e („Try Better Next Time“) und Datenkrake­n („Surrounded By Spies“). Denn mit dem Stachel der Queerness gegen einen straighten Mainstream zu löcken und darüber selbst zum Mainstream zu werden – diese Geschichte scheint spätestens mit ihrer eigenen glücklich auserzählt.

Die gemeinsame Wurzel: Little Richard

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Foto: Matt Crossick, dpa Eine Ikone mit betont ausgefalle­nem Auftreten: Elton John.
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Foto: Mads Perch Gerne stilisiert uneindeuti­g: Brian Molko von der Band Placebo.

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