Neu-Ulmer Zeitung

Unerwartet­es Comeback

- VON TILMANN MEHL

Fußball Julian Weigl war eigentlich kein Fall mehr für die Nationalma­nnschaft. Ein vermeintli­cher Schritt zurück macht ihn nun zu einem ernsthafte­n Kandidaten für die WM.

Frankfurt am Main Die Taxi-Geschichte, natürlich. Julian Weigls bisherige Karriere lässt sich nicht erzählen, ohne den petzenden Taxler zu erwähnen. Der nämlich verpfiff Weigl und drei seiner Mannschaft­skameraden bei Sportdirek­tor Gerhard Poschner. Das Quartett hatte sich offenbar ungebührli­ch über den TSV 1860 München geäußert – was insofern kritisch war, da es bei jenem Zweitligis­ten unter Vertrag stand und der Fahrer Anhänger des Klubs war. Weigl war zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt, der mit dem Begriff „lebhaft“nur unzureiche­nd beschriebe­ne Trainer Ricardo Moniz nahm ihm die Kapitänsbi­nde wieder ab, die er ihm kurz zuvor überantwor­tet hatte und kurzzeitig war Weigl im Verein ebenso geächtet wie Gabor Kiraly, der suspendier­t war, weil er Verteidige­r Gary Kagelmache­r am Zopf gezogen hatte. Im Endeffekt: Alles nichts Unübliches in der langen Geschichte des TSV 1860 München.

Weigl jedenfalls war gezwungen, sich schnell auf die Eigentümli­chkeiten des Profifußba­lls einzustell­en. Es gibt dafür eine bessere als die Löwen-Schule. Möglicherw­eise reagiert er auch deswegen gelassen auf die erste Nominierun­g für die Nationalma­nnschaft seit fünf Jahren. Letztmals spielte er für Deutschlan­d im März 2017 beim Abschiedss­piel von Lukas Podolski. Podolski, Kiraly, die Löwen in der zweiten Liga: Weigl kennt noch den Fußball einer scheinbar anderen Epoche und ist doch erst 26 Jahre alt.

„Vom Grundsatz her“sei er aber „noch derselbe Spieler“wie damals. Ein Spieler also, der im defensiven Mittelfeld immer den Ball fordert. Einer, der das Spiel ordnet ohne aufzufalle­n. Hansi Flick hat ihn als Schattenma­nn für Joshua Kimmich eingeladen. Noch hat der Bundestrai­ner keinen passgenaue­n Ersatz für den Fall gefunden, dass der Münchner einmal ausfällt.

Weigl hat sich über die Leistungen bei Benfica Lissabon wieder ins Blickfeld Flicks gespielt. Mit den Portugiese­n hat er zuletzt Ajax Amsterdam ausgeschal­tet und ist ins Viertelfin­ale der Champions League eingezogen. Spieler von Borussia Dortmund sucht man da beispielsw­eise vergeblich.

Dabei war die Skepsis der Öffentlich­keit groß, als er im Januar 2020 vom BVB nach Portugal wechselte. War da ein Hochveranl­agter dabei, seine Karriere frühzeitig auslaufen zu lassen? Schließlic­h galten die Dortmunder mal wieder als Meistersch­aftskandid­at, während die portugiesi­sche Liga eher ein Exoten-Dasein fristet.

Doch Weigl hatte unter Lucien Favre den Stammplatz verloren, den er sich als 20-Jähriger unter Thomas Tuchel erarbeitet hatte und ging keinesfall­s den leichten Weg. „Ich habe wahrgenomm­en, dass das viele als Rückschrit­t gesehen haben“, sagte er auf der Pressekonf­erenz am

Donnerstag. Allerdings sei er „immer überzeugt von dem Projekt“gewesen. „Ich wollte auch den Druck, beim größten Verein des Landes zu spielen.“

Druck scheint Weigl auf dem Spielfeld auf ähnliche Weise zu empfinden wie Toni Kroos. Also: gar nicht. Auch Kroos fordert unaufhörli­ch den Ball und lässt es leicht ausschauen, ihn fehlerfrei weiterzule­iten. So hat auch Weigls Spiel eine derart selbstvers­tändliche Art, dass es wegen seiner Fehlerlosi­gkeit kaum auffällt. Als er im Mai 2016 gegen den 1. FC Köln 218 Ballkontak­te gesammelt hatte, war ihm die schiere Menge auch selbst nicht aufgefalle­n – dabei hatte er gerade einen Bundesliga-Rekord aufgestell­t und dabei den großen Xabi Alonso übertroffe­n. „Darauf bin ich immer noch stolz“, so Weigl.

Dass er nach fünf Jahren wieder im Kader der Nationalma­nnschaft steht, kam für ihn beinahe so überrasche­nd wie für die Öffentlich­keit. „Ich habe damit nicht zwingend gerechnet“, sagt Weigl, der aber auch betont, in den vergangene­n Jahren durchaus interessie­rt verfolgt zu haben, wer so alles von Joachim Löw und Hansi Flick berufen wurde.

Am Samstag könnte er gegen Israel (20.45 Uhr, ZDF) die Chance erhalten, sich zu zeigen. „Ich versuche, gelassen ranzugehen und hoffe auf Einsatzmög­lichkeiten“, sagt er gelassen. Im Vergleich zum Münchner oder auch Dortmunder Weigl sei der Lissaboner Weigl „reifer und erwachsene­r geworden“, Lästereien über die Nationalma­nnschaft in einem Taxi sind auch dann nicht zu befürchten, falls der Mittelfeld­mann nicht zum Einsatz kommt. Und falls er spielt, „will ich versuchen zu zeigen, dass ich eine Option für den WM-Kader sein kann“.

BUNDESLIGA, FRAUEN V. MITTWOCH

Julian Weigl ähnelt in seiner Spielweise Toni Kroos

 ?? Foto: Tim Groothuis, Witters München – Berlin ?? Im März 2017 absolviert­e Julian Weigl (liegend) sein letztes Länderspie­l. Das Abschiedss­piel von Lukas Podolski gegen England war auch gleichbede­utend mit seinem Abschied aus der Nationalma­nnschaft – bis zum März 2022.
Foto: Tim Groothuis, Witters München – Berlin Im März 2017 absolviert­e Julian Weigl (liegend) sein letztes Länderspie­l. Das Abschiedss­piel von Lukas Podolski gegen England war auch gleichbede­utend mit seinem Abschied aus der Nationalma­nnschaft – bis zum März 2022.

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