Neu-Ulmer Zeitung

Was kann den Krieg beenden?

- VON MICHAEL STIFTER

Angriff Einen Monat nach dem Überfall auf die Ukraine bleibt Putins Ziel unklar. Seine Truppen sollen nun doch zuerst den Osten erobern. Ob sich der Kreml-Chef damit begnügt, weiß niemand. Sein Gesicht zu wahren, scheint kaum noch möglich.

Seit einem Monat tobt der Krieg in der Ukraine – zehntausen­de Menschen sind tot und die Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Kämpfe schwinden. Klar ist schon jetzt, dass Wladimir Putin entgegen der Behauptung­en der Kreml-Propaganda seine Ziele nicht erreicht hat. Im Norden und in der Hauptstadt Kiew hält das ukrainisch­e Militär den russischen Angriffen stand – auch dank Unterstütz­ung der Nato. Für Experten steht fest, dass sich Putin verschätzt hat. Das macht den Despoten aber nur noch unberechen­barer. Der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow verschärft­e am Freitag schon mal den Ton.

Der Westen habe Russland mit seinen Sanktionen den „totalen Krieg“erklärt, sagte Lawrow und weckte mit der Formulieru­ng bewusst Assoziatio­nen zur Nazizeit. Europas Politiker wollten sein Land „zerstören, brechen, vernichten, erdrosseln“, behauptete der langjährig­e Außenminis­ter. Diese rhetorisch­e Eskalation legt nahe, dass sich Russland von der massiven Gegenreakt­ion des Westens in die Ecke gedrängt fühlt. Zu den Folgen der Sanktionen kommen militärisc­he Misserfolg­e, die möglicherw­eise auch Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu angelastet werden. Er gilt als enger Vertrauter des Präsidente­n, ist aber seit zwei Wochen von der Bildfläche verschwund­en.

„Wladimir Putin ist vier großen Irrtümern erlegen“, sagt der CDUAußenpo­litiker Norbert Röttgen im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Kreml-Chef habe nicht nur die Stärke der eigenen Truppen überschätz­t und die militärisc­hen Fähigkeite­n der Ukraine erheblich unterschät­zt. „Putin hat auch seinem eigenen Narrativ geglaubt, dass die russischen Soldaten in weiten Teilen des Landes als Befreier empfangen und bejubelt würden. Stattdesse­n stellen sich die Ukrainer geschlosse­n gegen diesen Angriff“, sagt Röttgen. Putin habe damit die ukrainisch­e Nation – von der er behauptet, es gäbe sie gar nicht – geeint. „Und sein vierter Irrtum war, dass er nicht mit der Einigkeit des Westens und der Nato gerechnet hatte.“Das Verteidigu­ngsbündnis will zwar weiterhin keinesfall­s direkt in den Krieg eingreifen, um eine Ausweitung über die Grenzen der Ukraine hinaus zu vermeiden, hat sich in dieser Woche beim Gipfeltref­fen in Brüssel aber entschloss­en gegen Russland positionie­rt. Die Nato will zur Abschrecku­ng ihre Truppen in Osteuropa massiv aufstocken.

US-Präsident Joe Biden reist am Wochenende nach Polen, um dort Nato-Soldaten zu treffen. In dem Nachbarlan­d der Ukraine sind bereits Millionen Flüchtling­e aus dem

Kriegsgebi­et angekommen. Die Lage der Ukrainerin­nen und Ukrainer im eigenen Land wird immer dramatisch­er. Die Behörden der besonders hart attackiert­en Hafenstadt Mariupol gehen inzwischen davon aus, dass bei dem Bombenangr­iff auf ein Theater, das als Zufluchtso­rt für Zivilisten gedient hatte, in der vergangene­n Woche etwa 300 Menschen getötet wurden. Beobachter der Vereinten Nationen erhalten immer neue Hinweise auf Massengräb­er in der belagerten Stadt. Der Krieg hat sich in den vergangene­n Tagen wieder stärker auf den Südosten der Ukraine verlagert. Das russische Verteidigu­ngsministe­rium verkündete offiziell, man konzentrie­re sich jetzt auf die völlige „Befreiung“der Region Donbass, wo Separatist­en schon seit Jahren gegen die ukrainisch­e Armee kämpfen. Sollte dies gelingen und auch noch Mariupol fallen, hätte sich Russland eine direkte Verbindung zur 2014 annektiert­en Halbinsel Krim erkämpft. Das galt noch vor ein paar Wochen als wahrschein­lichstes Ziel des Kreml. Doch dann begann Putin seinen Krieg gegen die ganze Ukraine und so erscheint es heute fraglich, ob er sich noch damit zufriedeng­eben würde, einen Landweg bis zum Schwarzen Meer zu erobern.

Immer wieder ist die Rede davon, der Kreml-Herrscher brauche eine gesichtswa­hrende Lösung, um den Krieg zu beenden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der sich zuletzt als Vermittler eingebrach­t hatte, forderte Putin am Freitag zu einem „ehrenvolle­n Abzug“auf. Für Röttgen gilt das inzwischen aber als ausgeschlo­ssen: „Ich fürchte, aus diesem Stadium sind wir bereits hinaus. Wladimir Putin hat sein Gesicht längst verloren. Das, was er angerichte­t hat, ist so schrecklic­h und hat eine derartige Dimension, dass man das nicht mehr weglügen kann. Er wird den Menschen und Familien in Russland eines Tages erklären müssen, warum tausende junger Soldaten gestorben sind. Er wird Kriegsverb­rechen erklären müssen. Er wird erklären müssen, warum ganze Großstädte wie Mariupol komplett zerstört und verwüstet wurden“, sagt der CDUPolitik­er. Er geht davon aus, dass der Krieg noch Monate andauern wird. Direkte Verhandlun­gen zwischen der Ukraine und Russland waren bislang ohne nennenswer­te Ergebnisse geblieben. Und selbst bei einem Waffenstil­lstand glaubt Röttgen nicht an stabile Verhältnis­se: „Wie soll mit Putin noch jemals eine verlässlic­he Vereinbaru­ng getroffen werden?“

Das Interview mit Norbert Röttgen und weitere Hintergrün­de finden Sie in der Politik.

Lawrow wirft dem Westen „totalen Krieg“vor

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B ild : st oc k. ad ob e. co m

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