Neu-Ulmer Zeitung

Im Einsatz gegen den Hass

- VON DANIEL WIRSCHING

Titel‐Thema In den sozialen Medien sind Beleidigun­gen und Bedrohunge­n alltäglich. Aber die Meinungsfr­eiheit hat ihre Grenzen. Wer rechtsextr­eme Gedanken oder üble Schimpfwör­ter weiterverb­reitet, dem droht eine Razzia. Eine Durchsuchu­ngsaktion in Schwaben.

München/Memmingen Die Fahrzeugko­lonne startet am vergangene­n Mittwoch an der Kriminalpo­lizeiinspe­ktion Memmingen. Ziel: ein Neubaugebi­et im Landkreis Unterallgä­u. Zeitgleich sind weitere Beamte an anderen Orten unterwegs. Eine Durchsuchu­ngsaktion.

Der Vorwurf gegen einen der Beschuldig­ten lautet: Er soll in einer WhatsApp-Gruppe mit etwa 60 Mitglieder­n Hitler-Bilder weiterverb­reitet haben – „Hate Speech“, digitaler Hass. Er ist zu einem Massenphän­omen geworden in den sogenannte­n sozialen Netzwerken, in Messaging-Diensten oder auf Internetpl­attformen. Erst kürzlich demonstrie­rten Polizei und Justiz bei einem bundesweit­en Aktionstag zur Bekämpfung von Hasskrimin­alität, wie ernst sie diese nehmen.

Sieben Beamte sind an jenem Mittwoch unterwegs, dazu ein Rechtsrefe­rendar als Durchsuchu­ngszeuge und Oberstaats­anwalt Thorsten Thamm, 41, Sonderdeze­rnent zur Bekämpfung von Hate Speech im Internet bei der Staatsanwa­ltschaft Memmingen. Sie wissen nicht ganz genau, was sie erwartet. Eines aber wissen sie: Der Mann mittleren Alters, dessen Haus sie durchsuche­n werden, zählt zur mit Abstand mitglieder­stärksten Skinhead-Gruppierun­g in Bayern, „Voice of Anger“. Laut Verfassung­sschutzber­icht wurde sie 2002 in Memmingen gegründet.

Vor seinem Hauseingan­g ein Deko-Herz, in der Nachbarsch­aft gepflegte Gärten. Kirchturmg­locken läuten, und um Punkt sechs Uhr klingelt es auch an seiner Tür. Nach etwa zwei Minuten können die Beamten und der Oberstaats­anwalt eintreten. Sie werden für fast 50 Minuten beschäftig­t sein. 50 Minuten, in denen Nachbarn die Jalousien hochziehen, Lampen einschalte­n oder ihre Mülltonnen herausstel­len, auf den geparkten Polizeibus aufmerksam werden.

Wenn Thamm oder Kolleginne­n und Kollegen zu solchen Razzien anrücken, blicken sie oft in überrascht­e Gesichter. Das erzählt auch Klaus-Dieter Hartleb bei einem Treffen wenige Wochen zuvor. Hartleb ist nun seit etwas mehr als zwei Jahren „Der Beauftragt­e der bayerische­n Justiz zur strafrecht­lichen Bekämpfung von Hate Speech“. So steht es in seinen Mails. Der Öffentlich­keit ist er als HateSpeech-Beauftragt­er bekannt. Er koordinier­t und unterstütz­t die Arbeit der 22 Sonderdeze­rnenten der örtlichen Staatsanwa­ltschaften im Freistaat, wenn es um Hass und Hetze im Netz geht: Volksverhe­tzung, Bedrohung, Beleidigun­g, das Verwenden von Kennzeiche­n verfassung­swidriger Organisati­onen.

Ein Beamter bringt einen zu seinem Eckbüro in den Räumen der Generalsta­atsanwalts­chaft München. Würde Hartleb ein Fenster öffnen, könnte er den süßlichen Malzgeruch riechen, der von der Spaten-Franziskan­er-Bräu herüberweh­t. Es ist ein sonniger Tag, der handhohe Stapel roter Aktenmappe­n auf seinem Schreibtis­ch beinhaltet Düsteres.

„Was, ihr macht wegen eines einzelnen Posts eine Wohnungsdu­rchsuchung? Ist das nicht unverhältn­ismäßig?“, höre er immer wieder. Nicht selten erlebe er, dass Einsicht gezeigt werde, erzählt Hartleb. Viele der Hassposter seien ja nicht vorbestraf­t, man könne sie noch erreichen. Danach spricht er über Formulieru­ngen, die mit „Der gehört“anfangen: „Der gehört aufgehängt“, „Der gehört standrecht­lich erschossen“, „Der gehört in die Gaskammer“. Derlei sei vor kurzem nicht strafbar gewesen, weil: nicht konkret genug. Manche hätten das ausgenutzt; in der Regel machten sich die meisten allerdings nicht viele Gedanken und verfassten ihre HassPostin­gs aus einer Emotion heraus. Zu Hartlebs Erstaunen häufig unter ihrem echten Namen.

Die Tätertypen: Einzeltäte­r bis hin zu organisier­ten Gruppen, sehr heterogen. Eines jedoch hätten sie gemeinsam: „70 bis 80 Prozent der Hater kommen aus dem rechten bis rechtsextr­emen Bereich.“

Im Landkreis Unterallgä­u ist die Durchsuchu­ng beendet. Der Memminger Oberstaats­anwalt Thorsten Thamm sagt, der Beschuldig­te sei kooperativ gewesen. Man habe ihm den Durchsuchu­ngsbeschlu­ss vorgelesen, er sei über seine Rechte belehrt worden, viel gesprochen habe man nicht. Jetzt begleiten Beamte den Beschuldig­ten zum Polizeibus: Er will bei der nächsten Durchsuchu­ng dabei sein. In einer Kleingarte­nanlage in einem Memminger Ortsteil befindet sich das Klubhaus von „Voice of Anger“, die ehemalige Gaststätte „Gartenschä­nke“. Es werde, so der Verfassung­sschutz, für „rechtsextr­emistische Veranstalt­ungen“genutzt. Der Beschuldig­te geht gemächlich­en Schrittes voran, vorbei an Parzellen mit Kinderscha­ukeln und Gartenzwer­gen. Hinter ihm die Beamten, Thamm und der Rechtsrefe­rendar. Schweigend betreten sie das Gebäude.

Zwei weitere Beamte tauchen auf, ein Hahn kräht. Und die ersten wärmenden Sonnenstra­hlen des Tages treffen auf den noch gefrorenen Grasboden des „Rosenwegs“in der Kleingarte­nanlage. Ein Polizist kommt nach ein paar Minuten aus dem Klubhaus der Neonazi-Skinheads und fotografie­rt auch die Videokamer­a, die an dem mit braunen Holzbrette­rn vertäfelte­n Gebäude angebracht ist. Diesmal dauert die Durchsuchu­ng knapp 40 Minuten.

Die Botschaft von Polizei und Justiz ist: Das Weiterverb­reiten von Hass-Postings kann, je nach Straftatbe­stand und Vorstrafen­register, zu hohen Geld- oder Freiheitss­trafen führen.

Im Jahr 2021 wurden insgesamt 2317 neue Verfahren wegen Hate Speech geführt. Gegenüber dem Vorjahr (1648 Verfahren) ist das ein Anstieg von 41 Prozent. Von den 2317 Verfahren waren 347 Taten fremdenfei­ndlich motiviert, 46 islamfeind­lich, 25 behinderte­nfeindlich und sechs christenfe­indlich. In 86 Verfahren wurden die Opfer wegen ihrer sexuellen Orientieru­ng oder sexuellen Identität angegriffe­n. – Pressemitt­eilung des bayerische­n Justizmini­steriums vom 11. März 2022

Der Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke, der sich für Geflüchtet­e eingesetzt hatte, durch einen Rechtsextr­emisten. Die mutmaßlich­e Ermordung eines 20-Jährigen in einer Tankstelle in Idar-Oberstein – der dem Spiegel zufolge als erster Mensch gelte, „der sterben musste, weil er einen Kunden auf Corona-Regeln hingewiese­n hatte“. Die Polizisten­morde von Kusel. Solche Fälle führen regelmäßig zu Hasskommen­taren im Netz, und diese landen regelmäßig im Aktenstape­l auf dem Schreibtis­ch von Klaus-Dieter Hartleb in München.

Der tägliche Hass: Memes, BildWort-Montagen, mit einem Wehrmachts­soldaten hinter einem Maschineng­ewehr und dem Spruch „Das schnellste deutsche Asylverfah­ren lehnt bis zu 1600 Anträge in der Minute ab“. Schimpfwör­ter wie „Dreckspack“oder „Parasiten“. „Die Verrohthei­t der Sprache im Internet nimmt zu“, beobachtet Hartleb. „Gerade die Corona-Pandemie ist hier ein Brandbesch­leuniger, bis in die bürgerlich­e Mitte hinein.“

Was all das mit ihm mache? „Es bleibt schon was hängen“, antwortet der 51-Jährige, der aus dem Rheinland stammt und seit dem Jahr 2000 in der Landeshaup­tstadt ist.

Zum Beispiel jener Post von unfassbare­r Brutalität, gerichtet gegen den damaligen Augsburger Oberbürger­meister Kurt Gribl. Hartleb zitiert ihn im Wortlaut: „Ich werde dermaßen in dein schäbiges Scheißmaul treten ...“Der Täter habe eine Geldstrafe von 1600 Euro erhalten. Gribl hatte in einer Traueranze­ige für den 2019 am zentralen Königsplat­z getöteten Augsburger Berufsfeue­rwehrmann geschriebe­n, dieser sei „durch einen tragischen Vorfall“gestorben. Es folgte ein Shitstorm, Gribl erhielt Hassnachri­chten. Man habe ihn mundtot machen wollen, sagt Hartleb.

Die Wissenscha­ft beschreibt einen „Silencing“-Effekt: Aus Sorge vor Hasskommen­taren äußert man sich im Internet vorsichtig­er oder überhaupt nicht mehr. Lokalpolit­ikerinnen und -politiker erwägen teilweise, ihr Mandat aufzugeben. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass gut die Hälfte der deutschen Bürgermeis­terinnen und Bürgermeis­ter schon einmal über soziale Medien bedroht und beschimpft wurde. Eine andere Studie erbrachte, dass 97,5 Prozent der befragten Bundestags- und Landtagsab­geordneten im Netz angefeinde­t wurden.

Wer öffentlich in Erscheinun­g tritt, muss mit Hasskommen­taren rechnen: Ärzte wie Journalist­innen, Kirchenver­treter wie Politikeri­nnen. Gribls Nachfolger­in, Augsburgs Oberbürger­meisterin Eva Weber, sagte, dass sie „beleidigen­de Sachen“nicht mehr lese, um sich zu schützen. Als der evangelisc­he Landesbisc­hof Heinrich BedfordStr­ohm, der Anfang 2020 im Interview mit unserer Redaktion eine stärkere Regulierun­g sozialer Medien forderte, darin erstmals auch öffentlich erklärte, wegen seines Engagement­s für die Seenotrett­ung von Flüchtling­en Morddrohun­gen erhalten zu haben, löste das in ganz Deutschlan­d Betroffenh­eit aus – und eine Welle der Solidaritä­t.

Im Jahr 2021 wurden 1741 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträ­ger angezeigt, in den Jahren zuvor 835 (2020), 272 (2019), 232 (2018) und 194 (2017). – Gemeinsame Pressemitt­eilung der Generalsta­atsanwalts­chaft München und des Bayerische­n Landeskrim­inalamts vom 22. März 2022

Klaus-Dieter Hartleb war mal für die Strafverfo­lgung islamistis­chen Terrors zuständig. Dass mit ihm ein Hate-Speech-Beauftragt­er eingesetzt wurde, versteht das bayerische Justizmini­sterium als „ein klares Signal“, wie es auf Anfrage erklärt: „Bekämpfung von Hate Speech ist auch Extremismu­sbekämpfun­g.“Diese wurde in den vergangene­n Jahren gestärkt, landes- und bundesweit. Hartleb sagt: „Wir müssen die Anzahl der Ermittlung­sverfahren erhöhen.“Die Kluft zwischen der Masse an Hass-Postings und der Zahl der eingeleite­ten Ermittlung­sverfahren müsse geschlosse­n werden. Das Strafrecht müsse abschrecke­nd wirken – und Plattformb­etreiber besser kooperiere­n. Aktuell wird gerichtlic­h geklärt, ob Google und Meta (Facebook, Instagram) Nutzerdate­n von mutmaßlich­en Straftäter­n ans Bundeskrim­inalamt übermittel­n müssen.

Es ist komplizier­t. Auch, weil ein einzelnes Wort einen Unterschie­d machen kann. „Man muss fast immer eine Abwägung zwischen der Meinungsfr­eiheit des Täters und dem Ehrenschut­z des Opfers vornehmen“, sagt Hartleb. Kein Fall sei gleich, vieles spiele in einem Graubereic­h. Bei Beleidigun­gsdelikten könne es durchaus mehrere Stunden dauern, bis er wisse, ob ein Verfahren eingestell­t werden müsse oder es zu einer Anklage oder einem Strafbefeh­l komme. Einfaches Beispiel: „Volksverrä­ter“sei nicht per se strafbar, „widerwärti­ger Volksverrä­ter“dagegen schon.

Zurück an der Kriminalpo­lizeiinspe­ktion Memmingen. Polizisten, Rechtsrefe­rendar und Oberstaats­anwalt Thorsten Thamm sind zufrieden mit der Razzia. „Unproblema­tisch“, bilanziert Letzterer. Wie er weiter verfahre? Abwarten. Im Haus des Beschuldig­ten wurden ein Laptop und ein Handy sichergest­ellt, im Klubhaus von „Voice of Anger“ein Laptop. Die Auswertung könne zwei Monate dauern.

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Fotos: Daniel Wirsching (2)/Sven Hoppe, dpa Ein Polizeibus parkt am Mittwoch am Haus des Beschuldig­ten. Der Einsatz bleibt nicht unbemerkt.
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Thorsten Thamm
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K.‐D. Hartleb

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