Im Einsatz gegen den Hass
Titel‐Thema In den sozialen Medien sind Beleidigungen und Bedrohungen alltäglich. Aber die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen. Wer rechtsextreme Gedanken oder üble Schimpfwörter weiterverbreitet, dem droht eine Razzia. Eine Durchsuchungsaktion in Schwaben.
München/Memmingen Die Fahrzeugkolonne startet am vergangenen Mittwoch an der Kriminalpolizeiinspektion Memmingen. Ziel: ein Neubaugebiet im Landkreis Unterallgäu. Zeitgleich sind weitere Beamte an anderen Orten unterwegs. Eine Durchsuchungsaktion.
Der Vorwurf gegen einen der Beschuldigten lautet: Er soll in einer WhatsApp-Gruppe mit etwa 60 Mitgliedern Hitler-Bilder weiterverbreitet haben – „Hate Speech“, digitaler Hass. Er ist zu einem Massenphänomen geworden in den sogenannten sozialen Netzwerken, in Messaging-Diensten oder auf Internetplattformen. Erst kürzlich demonstrierten Polizei und Justiz bei einem bundesweiten Aktionstag zur Bekämpfung von Hasskriminalität, wie ernst sie diese nehmen.
Sieben Beamte sind an jenem Mittwoch unterwegs, dazu ein Rechtsreferendar als Durchsuchungszeuge und Oberstaatsanwalt Thorsten Thamm, 41, Sonderdezernent zur Bekämpfung von Hate Speech im Internet bei der Staatsanwaltschaft Memmingen. Sie wissen nicht ganz genau, was sie erwartet. Eines aber wissen sie: Der Mann mittleren Alters, dessen Haus sie durchsuchen werden, zählt zur mit Abstand mitgliederstärksten Skinhead-Gruppierung in Bayern, „Voice of Anger“. Laut Verfassungsschutzbericht wurde sie 2002 in Memmingen gegründet.
Vor seinem Hauseingang ein Deko-Herz, in der Nachbarschaft gepflegte Gärten. Kirchturmglocken läuten, und um Punkt sechs Uhr klingelt es auch an seiner Tür. Nach etwa zwei Minuten können die Beamten und der Oberstaatsanwalt eintreten. Sie werden für fast 50 Minuten beschäftigt sein. 50 Minuten, in denen Nachbarn die Jalousien hochziehen, Lampen einschalten oder ihre Mülltonnen herausstellen, auf den geparkten Polizeibus aufmerksam werden.
Wenn Thamm oder Kolleginnen und Kollegen zu solchen Razzien anrücken, blicken sie oft in überraschte Gesichter. Das erzählt auch Klaus-Dieter Hartleb bei einem Treffen wenige Wochen zuvor. Hartleb ist nun seit etwas mehr als zwei Jahren „Der Beauftragte der bayerischen Justiz zur strafrechtlichen Bekämpfung von Hate Speech“. So steht es in seinen Mails. Der Öffentlichkeit ist er als HateSpeech-Beauftragter bekannt. Er koordiniert und unterstützt die Arbeit der 22 Sonderdezernenten der örtlichen Staatsanwaltschaften im Freistaat, wenn es um Hass und Hetze im Netz geht: Volksverhetzung, Bedrohung, Beleidigung, das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Ein Beamter bringt einen zu seinem Eckbüro in den Räumen der Generalstaatsanwaltschaft München. Würde Hartleb ein Fenster öffnen, könnte er den süßlichen Malzgeruch riechen, der von der Spaten-Franziskaner-Bräu herüberweht. Es ist ein sonniger Tag, der handhohe Stapel roter Aktenmappen auf seinem Schreibtisch beinhaltet Düsteres.
„Was, ihr macht wegen eines einzelnen Posts eine Wohnungsdurchsuchung? Ist das nicht unverhältnismäßig?“, höre er immer wieder. Nicht selten erlebe er, dass Einsicht gezeigt werde, erzählt Hartleb. Viele der Hassposter seien ja nicht vorbestraft, man könne sie noch erreichen. Danach spricht er über Formulierungen, die mit „Der gehört“anfangen: „Der gehört aufgehängt“, „Der gehört standrechtlich erschossen“, „Der gehört in die Gaskammer“. Derlei sei vor kurzem nicht strafbar gewesen, weil: nicht konkret genug. Manche hätten das ausgenutzt; in der Regel machten sich die meisten allerdings nicht viele Gedanken und verfassten ihre HassPostings aus einer Emotion heraus. Zu Hartlebs Erstaunen häufig unter ihrem echten Namen.
Die Tätertypen: Einzeltäter bis hin zu organisierten Gruppen, sehr heterogen. Eines jedoch hätten sie gemeinsam: „70 bis 80 Prozent der Hater kommen aus dem rechten bis rechtsextremen Bereich.“
Im Landkreis Unterallgäu ist die Durchsuchung beendet. Der Memminger Oberstaatsanwalt Thorsten Thamm sagt, der Beschuldigte sei kooperativ gewesen. Man habe ihm den Durchsuchungsbeschluss vorgelesen, er sei über seine Rechte belehrt worden, viel gesprochen habe man nicht. Jetzt begleiten Beamte den Beschuldigten zum Polizeibus: Er will bei der nächsten Durchsuchung dabei sein. In einer Kleingartenanlage in einem Memminger Ortsteil befindet sich das Klubhaus von „Voice of Anger“, die ehemalige Gaststätte „Gartenschänke“. Es werde, so der Verfassungsschutz, für „rechtsextremistische Veranstaltungen“genutzt. Der Beschuldigte geht gemächlichen Schrittes voran, vorbei an Parzellen mit Kinderschaukeln und Gartenzwergen. Hinter ihm die Beamten, Thamm und der Rechtsreferendar. Schweigend betreten sie das Gebäude.
Zwei weitere Beamte tauchen auf, ein Hahn kräht. Und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Tages treffen auf den noch gefrorenen Grasboden des „Rosenwegs“in der Kleingartenanlage. Ein Polizist kommt nach ein paar Minuten aus dem Klubhaus der Neonazi-Skinheads und fotografiert auch die Videokamera, die an dem mit braunen Holzbrettern vertäfelten Gebäude angebracht ist. Diesmal dauert die Durchsuchung knapp 40 Minuten.
Die Botschaft von Polizei und Justiz ist: Das Weiterverbreiten von Hass-Postings kann, je nach Straftatbestand und Vorstrafenregister, zu hohen Geld- oder Freiheitsstrafen führen.
Im Jahr 2021 wurden insgesamt 2317 neue Verfahren wegen Hate Speech geführt. Gegenüber dem Vorjahr (1648 Verfahren) ist das ein Anstieg von 41 Prozent. Von den 2317 Verfahren waren 347 Taten fremdenfeindlich motiviert, 46 islamfeindlich, 25 behindertenfeindlich und sechs christenfeindlich. In 86 Verfahren wurden die Opfer wegen ihrer sexuellen Orientierung oder sexuellen Identität angegriffen. – Pressemitteilung des bayerischen Justizministeriums vom 11. März 2022
Der Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke, der sich für Geflüchtete eingesetzt hatte, durch einen Rechtsextremisten. Die mutmaßliche Ermordung eines 20-Jährigen in einer Tankstelle in Idar-Oberstein – der dem Spiegel zufolge als erster Mensch gelte, „der sterben musste, weil er einen Kunden auf Corona-Regeln hingewiesen hatte“. Die Polizistenmorde von Kusel. Solche Fälle führen regelmäßig zu Hasskommentaren im Netz, und diese landen regelmäßig im Aktenstapel auf dem Schreibtisch von Klaus-Dieter Hartleb in München.
Der tägliche Hass: Memes, BildWort-Montagen, mit einem Wehrmachtssoldaten hinter einem Maschinengewehr und dem Spruch „Das schnellste deutsche Asylverfahren lehnt bis zu 1600 Anträge in der Minute ab“. Schimpfwörter wie „Dreckspack“oder „Parasiten“. „Die Verrohtheit der Sprache im Internet nimmt zu“, beobachtet Hartleb. „Gerade die Corona-Pandemie ist hier ein Brandbeschleuniger, bis in die bürgerliche Mitte hinein.“
Was all das mit ihm mache? „Es bleibt schon was hängen“, antwortet der 51-Jährige, der aus dem Rheinland stammt und seit dem Jahr 2000 in der Landeshauptstadt ist.
Zum Beispiel jener Post von unfassbarer Brutalität, gerichtet gegen den damaligen Augsburger Oberbürgermeister Kurt Gribl. Hartleb zitiert ihn im Wortlaut: „Ich werde dermaßen in dein schäbiges Scheißmaul treten ...“Der Täter habe eine Geldstrafe von 1600 Euro erhalten. Gribl hatte in einer Traueranzeige für den 2019 am zentralen Königsplatz getöteten Augsburger Berufsfeuerwehrmann geschrieben, dieser sei „durch einen tragischen Vorfall“gestorben. Es folgte ein Shitstorm, Gribl erhielt Hassnachrichten. Man habe ihn mundtot machen wollen, sagt Hartleb.
Die Wissenschaft beschreibt einen „Silencing“-Effekt: Aus Sorge vor Hasskommentaren äußert man sich im Internet vorsichtiger oder überhaupt nicht mehr. Lokalpolitikerinnen und -politiker erwägen teilweise, ihr Mandat aufzugeben. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass gut die Hälfte der deutschen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister schon einmal über soziale Medien bedroht und beschimpft wurde. Eine andere Studie erbrachte, dass 97,5 Prozent der befragten Bundestags- und Landtagsabgeordneten im Netz angefeindet wurden.
Wer öffentlich in Erscheinung tritt, muss mit Hasskommentaren rechnen: Ärzte wie Journalistinnen, Kirchenvertreter wie Politikerinnen. Gribls Nachfolgerin, Augsburgs Oberbürgermeisterin Eva Weber, sagte, dass sie „beleidigende Sachen“nicht mehr lese, um sich zu schützen. Als der evangelische Landesbischof Heinrich BedfordStrohm, der Anfang 2020 im Interview mit unserer Redaktion eine stärkere Regulierung sozialer Medien forderte, darin erstmals auch öffentlich erklärte, wegen seines Engagements für die Seenotrettung von Flüchtlingen Morddrohungen erhalten zu haben, löste das in ganz Deutschland Betroffenheit aus – und eine Welle der Solidarität.
Im Jahr 2021 wurden 1741 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger angezeigt, in den Jahren zuvor 835 (2020), 272 (2019), 232 (2018) und 194 (2017). – Gemeinsame Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft München und des Bayerischen Landeskriminalamts vom 22. März 2022
Klaus-Dieter Hartleb war mal für die Strafverfolgung islamistischen Terrors zuständig. Dass mit ihm ein Hate-Speech-Beauftragter eingesetzt wurde, versteht das bayerische Justizministerium als „ein klares Signal“, wie es auf Anfrage erklärt: „Bekämpfung von Hate Speech ist auch Extremismusbekämpfung.“Diese wurde in den vergangenen Jahren gestärkt, landes- und bundesweit. Hartleb sagt: „Wir müssen die Anzahl der Ermittlungsverfahren erhöhen.“Die Kluft zwischen der Masse an Hass-Postings und der Zahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren müsse geschlossen werden. Das Strafrecht müsse abschreckend wirken – und Plattformbetreiber besser kooperieren. Aktuell wird gerichtlich geklärt, ob Google und Meta (Facebook, Instagram) Nutzerdaten von mutmaßlichen Straftätern ans Bundeskriminalamt übermitteln müssen.
Es ist kompliziert. Auch, weil ein einzelnes Wort einen Unterschied machen kann. „Man muss fast immer eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Täters und dem Ehrenschutz des Opfers vornehmen“, sagt Hartleb. Kein Fall sei gleich, vieles spiele in einem Graubereich. Bei Beleidigungsdelikten könne es durchaus mehrere Stunden dauern, bis er wisse, ob ein Verfahren eingestellt werden müsse oder es zu einer Anklage oder einem Strafbefehl komme. Einfaches Beispiel: „Volksverräter“sei nicht per se strafbar, „widerwärtiger Volksverräter“dagegen schon.
Zurück an der Kriminalpolizeiinspektion Memmingen. Polizisten, Rechtsreferendar und Oberstaatsanwalt Thorsten Thamm sind zufrieden mit der Razzia. „Unproblematisch“, bilanziert Letzterer. Wie er weiter verfahre? Abwarten. Im Haus des Beschuldigten wurden ein Laptop und ein Handy sichergestellt, im Klubhaus von „Voice of Anger“ein Laptop. Die Auswertung könne zwei Monate dauern.