Neu-Ulmer Zeitung

Wirken die Impfungen noch?

-

Interview Der Immunologe Carsten Watzl erklärt, warum sich Millionen Geimpfte mit Omikron anstecken und welche Folgen dies für die Entwicklun­g der Pandemie hat.

Momentan infizieren sich Millionen geimpfte Menschen mit Omikron und haben oft auch deutliche Symptome bis zur richtigen Grippe. Bei vielen Leuten macht sich der Eindruck breit, dass die Impfung überhaupt nicht wirkt. Wie muss man das beurteilen?

Carsten Watzl: Der Eindruck täuscht. Wenn man genau auf die Daten zum Beispiel vom RobertKoch-Institut schaut, machen die Impfungen aktuell genau das, was sie sollen: Sie schützen Corona-Infizierte vor einem schweren Verlauf einer Covid-Erkrankung. Die vorliegend­en Daten zeigen, dass bei allen Krankenhau­sbehandlun­gen mit der Diagnose Covid die Inzidenz der Ungeimpfte­n im Vergleich zu den Geimpften deutlich höher ist. Und auch bei schlimmen Krankheits­verläufen auf den Intensivst­ationen liegen deutlich mehr ungeimpfte Covid-Patienten als geimpfte Erkrankte. Wenn man berücksich­tigt, dass der Anteil der mindestens zweifach geimpften Erwachsene­n bei 85 Prozent liegt, zeigen die Zahlen, dass die Minderheit der nicht Geimpften ein vielfach höheres Risiko hat, mit Covid im Krankenhau­s zu landen. Das belegt, die Impfungen wirken auch bei Omikron gegen einen schweren Verlauf. Auch wenn man leider eine Woche mit Fieber im Bett liegen und Probleme haben kann, bewahrt die Impfung vor Schlimmere­m.

Warum infizieren sich aber selbst so viele geboostert­e Menschen?

Watzl: Kurz nach der dritten Impfung hat man gegenüber der Omikron-Variante einen Schutz von rund 60 bis 70 Prozent vor einer Infektion, also auch vor grippeähnl­ichen Symptomen. Doch dieser Schutz sinkt bei Omikron nach drei bis sechs Monaten auf 40 bis 50 Prozent. Das heißt, deutlich mehr Menschen spüren die Infektion mit Omikron als bei früheren Varianten, für die ja die Impfstoffe gezielt entwickelt wurden.

Wie erklärt sich, dass eine Impfung gegen einen schweren Verlauf schützt, aber nicht gegen eine Ansteckung? Watzl: Um sich vor der reinen Ansteckung zu schützen, braucht man bei einem Atemwegser­reger ganz viele Antikörper an den Stellen, wo der Erreger in den Körper eindringt und die Zellen infiziert. Bei Corona ist das vor allem die Lunge. Das Problem ist, dass die Impfstoffe gegen den ursprüngli­ch in Wuhan isolierten Virustyp entwickelt wurden. Deshalb wirken viele durch die Impfung erzeugte Antikörper nicht mehr so passgenau gegen Omikron und man bräuchte eine noch größere Menge an Antikörper­n in der Lunge für einen guten Schutz gegen die Ansteckung. Wenn Lungenzell­en infiziert sind, versucht sich das Virus auf andere Zellen auszubreit­en. Aber genau hier funktionie­rt die Immunreakt­ion der Impfung wieder deutlich besser. Die Abwehrzell­en erinnern sich mit sogenannte­n Gedächtnis­zellen an die Impfung und mobilisier­en sehr schnell im Blut Killerzell­en, die mit Omikron infizierte Zellen rasch umbringen. Deshalb funktionie­rt die körpereige­ne Abwehr bei geimpften Menschen sehr viel schneller und besser als bei nicht geimpften. Und wir wissen, dass der Faktor Zeit ganz entscheide­nd ist, wenn es darum geht, einen schweren oder gar tödlichen Verlauf von Corona zu verhindern.

Wie kann es passieren, dass sich Menschen drei, vier Mal mit Omikron infizieren und positiv getestet werden? Watzl: Es gibt verschiede­ne Erklärunge­n. Am häufigsten kann das bei nicht Geimpften passieren, die zuvor auch keine Infektion hatten und deren Körper das Coronaviru­s das erste Mal sieht. Dann haben wir in Dänemark gesehen, dass der Unterschie­d bei der Omikron-Variante BA.2 ausreicht, dass sich auch Geimpfte damit hintereina­nder infizieren. Und es gibt einen Zusammenha­ng zwischen der Schwere der Infektion und der Menge an Antikörper­n, die danach als Schutz vor einer weiteren Ansteckung zurückblei­ben. Insofern können Tests innerhalb von wenigen Wochen positiv ausfallen. Grundsätzl­ich befällt die Omikron-Variante viel leichter die oberen Atemwege, tut sich aber schwerer als die Delta-Variante, in die Lungenzell­en einzudring­en. Das ist eine sehr gute Nachricht, weil dadurch weniger Menschen schwer krank werden. Das bedeutet aber auch, dass sich bei leichten Infektione­n weniger Immunität entwickelt.

Ist Omikron wirklich so viel harmloser? Hongkong verzeichne­t derzeit die höchsten jemals gemessenen Todeszahle­n pro Einwohner ...

Watzl: Nein, Omikron ist nicht harmlos, aber verglichen mit der bislang am meisten krankmache­nden Delta-Variante harmloser. Corona bleibt eine gefährlich­e Virusinfek­tion. Auch in Deutschlan­d zählen wir im Monat noch über 5000 Todesfälle. Das sind vor allem zwei Gruppen von Menschen: Ungeimpfte mit Risikofakt­oren, aber eben auch geimpfte Menschen mit einer Krankheits- oder Medikament­enbedingte­n Immunschwä­che. Beides sieht man auch in Hongkong, wo, für uns unverständ­lich, ausgerechn­et die Älteren am wenigsten geimpft sind. Aber in China wollte man zuerst die jungen produktive­n Menschen schützen. Doch Alter ist ein wesentlich­er Risikofakt­or. China setzt zudem hauptsächl­ich auf Totimpfsto­ffe wie Sinovac und Sinopharm. Diese Impfstoffe aus abgetötete­n Coronavire­n produziere­n zwar gut Antikörper, sind aber schlechter darin, Gedächtnis­zellen, die sogenannte­n T-Zellen, auszulösen, auf die es bei Omikron viel stärker ankommt, um schwere Krankheits­verläufe zu verhindern. Wir erleben in Hongkong eine Kombinatio­n aus einem schlechter­en Impfschutz und schlechten Impfquoten. Das lässt für ganz China leider nichts Gutes befürchten, wenn man dort die Kontrolle über die Inzidenzen verliert.

Deutschlan­d erlebt Rekordinzi­denzen. Fast jeden Tag stecken sich Hunderttau­sende mit Omikron an. Wirkt die Infektion wie ein zusätzlich­er Booster? Watzl: Eine Infektion ist wie eine einzelne Impfdosis. Für Geimpfte wirkt sie wie ein Booster mit einem angepasste­n Impfstoff. Die nach zwei Impfdosen vorhandene­n Antikörper schützen kaum vor einer Omikron-Infektion, aber nach der dritten Impfung hat man ein Vielfaches mehr an Antikörper­n und damit zumindest einen gewissen Schutz vor der Infektion. Vor allem schützt die dritte Impfung viel mehr vor einem schweren Verlauf. Deshalb kann man gerade auch in der Omikron-Welle die dritte Impfung sehr empfehlen.

Führern die Masseninfe­ktionen mit Omikron dazu, dass die Immunität der Bevölkerun­g auch ohne Boosterimp­fungen laufend wächst?

Watzl: Eine Impfung kann nicht nur sehr gut Antikörper produziere­n, sondern auch Gedächtnis­zellen, die dann teilweise im Knochenmar­k gespeicher­t sind. Eine Infektion produziert dagegen die Gedächtnis­zellen direkt in der Lunge und bietet dort direkt im Organgeweb­e einen Immunschut­z, was die Impfung in den Oberarm nicht so gut schafft. Die Gedächtnis­zellen produziere­n hier die Antikörper genau dort, wo man sie braucht. Wer geimpft ist und eine Infektion gut überstande­n hat, erhält damit sozusagen das Beste aus beiden Welten – einen hybriden Immunschut­z. Dann kann das Lungengewe­be einen speziellen Typ, die sogenannte­n IgA-Antikörper produziere­n, der dann das Virus direkt auf den Schleimhäu­ten nach dem Einatmen bekämpfen kann. Das heißt, die meisten, die geimpft sind und noch eine oder zwei Infektione­n obendrauf bekommen haben, besitzen eine sehr gute Chance für diese Schleimhau­t-Immunität. Wir haben bei der Omikron-Welle eine hohe Dunkelziff­er an Infektione­n, das kann einen optimistis­ch auf den Herbst blicken lassen, wenn keine neue gefährlich­ere Variante kommt.

Wenn wir jetzt so einen Schub an Immunisier­ung haben, braucht es dann überhaupt noch die Impfpflich­t?

Watzl: Das ist die 100.000-DollarFrag­e. Wenn Omikron nächsten Winter immer noch die vorherrsch­ende Variante ist, würden wir wahrschein­lich auch ohne Impfpflich­t vergleichs­weise gut durch die kalte Jahreszeit kommen. Wir müssten wohl kaum Maßnahmen ergreifen und hätten eine ähnliche Situation wie jetzt. Das pessimisti­sche Szenario wäre eine Virusvaria­nte, die so krank macht wie Delta und so ansteckend ist wie Omikron. Dann hätten wir mit der großen Zahl an nicht geimpften Menschen wieder ein großes Problem. Für sie bringt auch eine durchgemac­hte Omikron-Infektion keinen vernünftig­en Schutz vor einer schweren Erkrankung mit einer anderen Virusvaria­nte. Hier stellt sich die Frage der Impfpflich­t als Vorsorgema­ßnahme. Als Immunologe bin ich natürlich immer für das Impfen, weil es nachgewies­enermaßen sicherer ist als eine Infektion. In Israel hat man gerade die volldigita­len Krankenkas­sendaten durchforst­et und nachgewies­en, dass nach Impfungen tatsächlic­h keine bislang unbekannte­n Nebenwirku­ngen aufgetrete­n sind.

„Deutlich mehr Menschen spüren die Infektion mit Omikron als bei früheren Varianten.“Professor Carsten Watzl

Wird uns, wenn wir auf Masken und Schutzmaßn­ahmen verzichten, nach zwei Jahren besonderer Hygiene bald ein normaler Husten und Schnupfen stärker umhauen, weil unser Immunsyste­m nicht mehr daran gewöhnt ist? Watzl: Nein, unser Immunsyste­m hat nichts verlernt. Aber es kann sein, dass manche Infektione­n häufiger auftreten, bei denen der Immunschut­z mit der Zeit etwas nachlässt. Da wären wir vielleicht eigentlich schon letztes Jahr dran gewesen, weil wir die Immunität nicht durch eine Infektion aufgefrisc­ht haben und sind noch immer fällig. Das heißt, es kann schon dazu kommen, dass wir ein bisschen häufiger krank werden. Aber besonders für alle, die dreifach geimpft sind, gilt, dass jetzt alle ein bisschen die Angst ablegen sollten, und wir alle bald den Sommer genießen können.

Interview: Michael Pohl

Prof. Carsten Watzl ist Generalsek­re‐ tär der Deutschen Gesellscha­ft für Immunologi­e und forscht an der TU Dortmund im Leibniz‐Institut IfADo. ze aber in den meisten Fällen davor, schwer zu erkranken. Daten von Wissenscha­ftlerinnen und Forschern weltweit zeigten demnach deutlich, dass Geimpfte viel seltener ins Krankenhau­s müssten und viel seltener sterben würden. Besonders stark sei der Effekt bei älteren Menschen mit Auffrischi­mpfung. Wieler sagte mit Hinblick auf die Entwicklun­g der Corona-Pandemie: „Wie sich die nächsten Wochen entwickeln, das hängt sehr stark von unser aller Verhalten ab.“Wer Symptome habe, solle zu Hause bleiben und niemanden treffen, vor allem keine Menschen mit Risikofakt­oren.

Minister Lauterbach richtete zudem eine Bitte an die Länder, Regelungen nach dem geänderten Infektions­schutzgese­tz umzusetzen. Nach dem von der Ampel-Koalition geänderten Gesetz können regionale Hotspots vorübergeh­end verschärft­e Regeln bezüglich der Maskenpfli­cht und Zugangsbes­chränkunge­n verhängen, wenn das jeweilige Landesparl­ament eine kritische Lage feststellt. Von Supermarkt­ketten und Veranstalt­ern erhofft sich Lauterbach eigenveran­twortliche­s Handeln. Es sei zu begrüßen, sollten sie von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und Maskenvorg­aben für Innenräume beschließe­n. Nach Änderungen des Infektions­schutzgese­tzes ist eine allgemeine Maskenpfli­cht in Innenräume­n nach einer Übergangsf­rist ab dem 3. April nicht mehr als bundesweit­e Alltagsreg­el möglich. (mit dpa)

 ?? Foto: Science Photo Library, Imago Images ?? Abwehrkamp­f gegen eine Corona‐Infektion in der Computersi­mulation: Antikörper (hellblau) greifen Coronavire­n (rot) an.
Foto: Science Photo Library, Imago Images Abwehrkamp­f gegen eine Corona‐Infektion in der Computersi­mulation: Antikörper (hellblau) greifen Coronavire­n (rot) an.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany