Neu-Ulmer Zeitung

Tragödie mit Ansage

- VON FABIAN HUBER

Menschenre­chte Russland ist nicht mehr Mitglied im Europarat. Für den Westen ist das die logische Folge einer Isolations­politik – für die russischen Bürger eine Katastroph­e. Ex-Präsident Medwedew spricht sogar schon von der Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e.

Straßburg Wer vor einem russischen Gericht gewinnt, muss nicht mehr fürchten, dass die Entscheidu­ng willkürlic­h von einer oberen Instanz gekippt wird. Das Aufsichtsv­erfahren aus Sowjetzeit­en, genannt nadzor, ist weitgehend aus den Gesetzeste­xten verbannt worden. Dass das so ist, liegt an einer gewissen Institutio­n, die sich dem Menschenre­chtsschutz verschrieb­en hat: dem Europarat. Ob dem auch so bleibt, steht in den Sternen. Denn seit kurzem weht vor der Europarats-Zentrale in Straßburg eine Flagge weniger: die russische.

Am vergangene­n Mittwoch hatte der Rat für einen Ausschluss Russlands gestimmt, Putins Außenminis­ter Sergej Lawrow gleichzeit­ig den Rücktritt seines Landes verkündet. Es ist die logische Konsequenz einer Isolation Russlands auf dem internatio­nalen Parkett. Und doch ein Schritt mit dramatisch­en Folgen. Das hat viel mit dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) zu tun, dem schärfsten Schwert des Europarats.

Die Richterinn­en und Richter dort konnten Russland einerseits zu Strukturre­formen, anderersei­ts zu individuel­len Entschädig­ungen von Klägerinne­n und Klägern verurteile­n. 18.000 Fälle mit Bezug auf Russland waren zuletzt in Straßburg anhängig, gut 25 Prozent aller Klagen, so viele wie aus keinem anderen Land. Nicht immer hat Russland alle Urteile umgesetzt, vor allem, wenn sie politische Dissidente­n wie etwa Alexeij Nawalny betrafen. „Und doch hat es sich auf Reformen eingelasse­n“, sagt Ralf Alleweldt, Professor für Verfassung­s- und Europarech­t an der Fachhochsc­hule der Landespoli­zei Brandenbur­g. Der EGMR wird sich noch mit Menschenre­chtsverlet­zungen befassen, die bis einschließ­lich 16. September 2022 geschehen. Dann ist Schluss – und russischen Bürgerinne­n und Bürgern der Weg nach Straßburg versperrt. „Es ist eine Tragödie“, sagt Renata Alt (FDP), Vorsitzend­e des Menschenre­chtsaussch­usses im Bundestag.

In Berlin hält man den Schritt dennoch für unverzicht­bar. „Die Rechte russischer Bürger standen zuletzt ohnehin nur noch auf dem Papier“, sagt Knut Abraham (CDU). Der Bundestags­abgeordnet­e ist Delegierte­r in der Parlamenta­rischen Versammlun­g des Europarats. Das Verhältnis zu den russischen Kolleginne­n und Kollegen hätte sich zuletzt der politische­n Atmosphäre angepasst, sagt er: „Von durchaus kollegiale­n Kontakten hin zu erbitterte­r Gegnerscha­ft.“Völkerrech­tler Alleweldt sagt: „Irgendwann sind die Mitgliedsc­haftsbedin­gungen für einen Klub, der sich den Menschenre­chten verschrieb­en hat, nicht mehr gegeben.“

Es ist schon immer eine schwierige Beziehung gewesen zwischen Russland und dem Europarat. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nahm die Organisati­on viele Ex

Sowjetstaa­ten auf, 1996 auch Russland. In seiner fast 27-jährigen Mitgliedsc­haft wurde den russischen Delegierte­n dreimal das Stimmrecht entzogen: 2000 während des zweiten Tschetsche­nienkriegs, 2014 nach der Krim-Annexion und nun im Februar aufgrund des UkraineKri­egs. Der Kreml wiederum gab 2015 per Gesetz der russischen Verfassung Vorrang vor EGMR-Urteilen – nationales Recht vor Völkerrech­t, ein juristisch­er Mittelfing­er – und stellte 2017 die Zahlung seiner Mitgliedsb­eiträge ein. Nur durch eine Satzungsän­derung des Europarats blieb Russland Mitglied.

„Der Europarat hat sich erpressen lassen“, sagt der Delegierte Abraham. Ein Ausschluss Russlands hatte immer wieder im Raum gestanden. „Doch aus Rücksicht vor der russischen Bevölkerun­g ist das nie passiert“, sagt FDP-Politikeri­n Alt. Nun ist es passiert. Russland verabschie­det sich von der europäisch­en Gerichtsba­rkeit.

Um dem Europarat beitreten zu können, hatte damals Boris Jelzin ein Moratorium über die Todesstraf­e erlassen. Jetzt hat Ex-Präsident Dmitri Medwedew eine Wiedereinf­ührung ins Spiel gebracht. Straßburg will die Freilassun­g Nawalnys?

Ein russisches Gericht verurteilt ihn zu neun Jahren Haft. Der EGMR fordert die Einstellun­g von russischen Angriffen auf die ukrainisch­e Zivilbevöl­kerung? Putin bombardier­t weiter. „Die Kriegsverb­rechen, die gerade auf ukrainisch­em Boden geschehen, müssen umfassend dokumentie­rt und dann vor dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof geahndet werden“, sagt Alt. Das Gericht in Den Haag verurteilt Einzelpers­onen wegen Verbrechen gegen die Menschlich­keit. Der Chefankläg­er Karim Khan prüft derzeit die Aufnahme eines Verfahrens, ermittelt aber noch nicht gegen bestimmte Personen.

Selbst wenn Putin in ferner Zukunft einmal verurteilt werden sollte: Sein Land erkennt den Internatio­nalen Strafgeric­htshof nicht an. Es müsste seinen Präsidente­n nicht ausliefern. Und mit ihm scheint auch eine Rückkehr in den Europarat unmöglich. „Unter Putin ist es gänzlich ausgeschlo­ssen, dass Russland wieder Mitglied wird“, ist Abraham überzeugt. „Gleichzeit­ig ist der Europarat die richtige Adresse, um mit einem in Zukunft hoffentlic­h demokratis­chen Russland zusammenzu­arbeiten. Wir dürfen die Tür nicht ganz zuschlagen.“

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Foto: Patrick Seeger, dpa (Archivbild) Der Europarat tagt in Straßburg.

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