Eine Auszeit für Eltern schwerstkranker Kinder
Gesundheit Die Not in Familien mit pflegebedürftigen Kindern ist oft groß. Der Verein „Dachskinder“kämpft seit Jahren für Kurzzeitpflegeplätze. Nun unterstützt der Bezirk Schwaben ein neues Projekt, das auch die Kartei der Not fördern will.
Augsburg Helenas Herz muss schon seit Beginn ihres Lebens viel aushalten, ihr Herzschlag war von Geburt an viel zu schnell, erzählt ihr Vater. Etwa zwei Monate vor dem errechneten Geburtstermin wurde ein Kaiserschnitt nötig, da ihre Herztöne kaum noch zu hören gewesen seien. Ein Frühchen also. Doch erst nach einiger Zeit sei klar gewesen, dass die Kleine an einem seltenen Gendefekt leidet, der zu massiven Herzrhythmusstörungen führt. Als wäre dies nicht schon schwer genug, diagnostizierten die Ärzte auch noch einen Gehirnschaden.
Helena ist heute sechs Jahre alt. Sie kann weder sitzen noch stehen, noch laufen, noch sprechen. Da sie extrem reizempfindlich ist, schreit sie schnell und viel, schildert ihr Vater die Situation. Weil sie beim Schlucken Probleme hat, muss sie über eine Magensonde ernährt werden. Epileptische Anfälle, die vor allem nachts immer wieder kommen, bedeuten für das Mädchen jedes Mal Lebensgefahr. Sie ist also auf intensive Pflege rund um die Uhr angewiesen. Diese Pflege übernehmen ihre Eltern, vor allem ihre Mutter. Denn Helena lebt zusammen mit ihrer zehnjährigen Schwester – ein zum Glück gesundes Mädchen – in ihrer Familie im Landkreis Augsburg. Wer mit Helenas Vater spricht, spürt schnell: Mit den körperlichen und psychischen Kräften ist er, aber vor allem auch seine Frau nicht nur längst am Limit, beide können eigentlich gar nicht mehr. Seine Frau leide mittlerweile an Depressionen und Panikattacken, erzählt er. Auch körperlich spüre die 35-Jährige die Folgen der Pflege.
Hilfe in Form von stundenweiser Betreuung erhalten sie seit Sommer von den „Dachskindern“, einem Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Eltern von Kindern mit Behinderung oder schwerer Erkrankung zu unterstützen. Seit 14 Jahren kämpft der Verein vor allem für eines: für Kurzzeitpflegeplätze.
Angela Jerabeck hat den Verein zusammen mit Angelika Brunner ins Leben gerufen. Selbst haben beide Frauen gesunde Kinder, sie erleben aber seit vielen Jahren die große Not von Eltern mit pflegebedürftigen Kindern, da sie Kinderkrankenschwestern sind. Beide waren lange Zeit im ambulanten Dienst tätig und haben das Leid hautnah miterlebt: „Die große Not dieser Familien wird meistens nicht gesehen, diese Familien machen auf ihre Situation auch nicht aufmerksam, weil sie dafür überhaupt keine Kraft mehr haben“, sagt Jerabeck. Alle Energie fließe in die Pflege des Kindes. Und das Schlimmste: „Diese Familien sind in den allermeisten Fällen komplett auf sich allein gestellt.“Sehr oft sind es alleinerziehende Mütter, „weil diese Belastung eine Ehe oft nicht aushält“.
Schätzungsweise 2000 Familien seien allein in Schwaben betroffen, erklärt Jerabeck. Und es werden immer mehr. Denn infolge des medizinischen Fortschritts überleben heute wesentlich mehr Kinder und Jugendliche auch mit einer mehrfachen körperlichen und geistigen Behinderung sowie schweren Erkrankungen. „Allerdings fehlt pflegerisches Fachpersonal an allen Ecken und Enden, gerade auch für Kinder und Jugendliche“, sagt Jerabeck. „Viele ambulante Pflegedienste finden einfach keine Fachkräfte mehr. Als ich noch im ambulanten Pflegedienst gearbeitet habe, bin ich von einer erschöpften Familie zur anderen gefahren. Oft wurde mir schon weinend die Tür geöffnet.“Sie bestätigt auch, was Helenas Vater erzählt und was ihn zusätzlich belastet: „Betroffene Eltern müssen oft um jede ambulante pflegerische Unterstützung hartnäckig kämpfen.“
Das Hauptproblem, so Jerabeck: „Für diese Eltern gibt es nie auch nur eine kurze Auszeit. Im absoluten Notfall bleibt nur die Einweisung in die Klinik, weil Kurzzeitpflegeplätze fehlen.“Was diese Familien in der Pandemie noch dazu mitgemacht haben, als die gesunden Geschwister nicht in die Kita oder Schule durften – sei es, weil Homeschooling angesagt war, oder weil die Infektionsgefahr für das kranke Geschwisterkind zu groß war –, könne man sich nicht vorstellen.
Sabine Berninger kann es sich vorstellen. Sie ist Pflegedirektorin am Josefinum, der Klinik für Kinder und Jugendliche in Augsburg, deren Träger die Katholische Jugendfürsorge der Diözese Augsburg ist. Berninger hat wie Angela Jerabeck und Angelika Brunner das Leid gesehen. Für sie stand immer fest: „Wir müssen etwas tun, um diese Eltern zu stärken.“Seit 14 Jahren setzt sie sich zusammen mit den „Dachskindern“für das Projekt „Haus Dachsbau“ein, einer Einrichtung zur Kurzzeitpflege von schwerst pflegebedürftigen Kindern und Jugendlichen. Und jetzt endlich ist das Projekt, das ihr so sehr am Herzen liegt, einen Riesenschritt vorangekommen: Der schwäbische Bezirkstag hat sich einstimmig dazu entschlossen, den „Dachsbau“finanziell zu unterstützen, sodass am Josefinum diese Einrichtung nun geplant und gebaut werden kann. Der Verein „Dachskinder“habe ihn gleich zu Beginn seiner Amtszeit um
Hilfe gebeten, sagt Bezirkstagspräsident Martin Sailer (CSU). „Der unermüdliche Einsatz dieser Eltern hat mich tief bewegt und ich habe dem Verein ,Dachskinder‘ sofort versprochen, zu helfen.“Allerdings musste auch ein Träger gefunden werden, der diese kosten- und personalintensive Einrichtung aufbaut und betreibt. „Das Josefinum ist dankenswerterweise dazu bereit.“Allein der Bezirk rechnet nach Einschätzung von Sailer mit einer jährlichen Investitionssumme von 1,8 bis 2,4 Millionen Euro für die sechs Plätze. Dass diese nur ein Anfang sein können, sei klar. Doch schon von den sechs Plätzen könnten jährlich rund 100 Familien profitieren. Eine Besonderheit des Projekts sei die bayernweit einzigartige Möglichkeit einer intensivpflegerischen Behandlung, die beispielsweise junge Patientinnen und Patienten brauchen, die beatmet werden müssen.
Realisierbar sei so ein Projekt aber nur mit weiterer Hilfe, hebt Sailer hervor. „Daher bin ich der Kartei der Not auch sehr dankbar, dass sie von Anfang an ihre Unterstützung hier zugesagt hat.“Arnd Hansen, Geschäftsführer der Kartei der Not, betont, dass gerade die Förderung von Kindern und Jugendlichen dem Leserhilfswerk unserer Zeitung stets besonders wichtig ist. Und vor allem Familien, die aufgrund der Erkrankung oder Behinderung der Kinder eine erhöhte Belastung tragen, werden regelmäßig von der Stiftung bezuschusst. Daher sei es folgerichtig, dass das Kuratorium der Kartei der Not sofort zustimmte und den „Dachsbau“fördern will: „Den beiden Vorsitzenden des Kuratoriums, Ellinor Scherer und Alexandra Holland, ist es ein Herzensanliegen, dass schwerstbehinderte und kranke junge Menschen eine möglichst gute Versorgung und Zuwendung bekommen in der Zeit, in der sie nicht zu Hause sein können“, sagt Hansen.
Und diese gute Versorgung könne gerade das Josefinum garantieren, betont Pflegedirektorin Berninger. Doch nicht nur die medizinische Versorgung sei an dem Standort in unmittelbarer Nähe der Kinderund Jugendklinik gewährleistet.
Die Zahl der betroffenen Familien steigt
Das Josefinum will eine gute Versorgung gewährleisten
„Mindestens so wichtig ist neben der pflegerischen Versorgung auch die pädagogische Förderung in der Zeit, in der die Kinder und Jugendlichen im Haus Dachsbau betreut werden. Und nur wenn die Eltern wissen, dass ihr Kind wirklich optimal versorgt ist, können sie loslassen und ein wenig ausspannen.“
Für Helenas Eltern ist der Dachsbau „der letzte Strohhalm, an den wir uns jetzt klammern“, wie ihr Vater sagt. Allerdings brauchen sie noch weiter Geduld: Bezirkstagspräsident Sailer geht davon aus, dass im nächsten Jahr der Bauantrag und der Spatenstich erfolgen könnten, „die Inbetriebnahme könnte dann 2024/2025 sein“. Solange müssen Helenas Eltern noch durchhalten.
Kontakt Weitere Infos zu den „Dachs‐ kindern“unter www.dachskinder‐ ev.de; mehr zur Arbeit der Kartei der Not unter www.kartei‐der‐not.de