Neu-Ulmer Zeitung

Eine Auszeit für Eltern schwerstkr­anker Kinder

- VON DANIELA HUNGBAUR

Gesundheit Die Not in Familien mit pflegebedü­rftigen Kindern ist oft groß. Der Verein „Dachskinde­r“kämpft seit Jahren für Kurzzeitpf­legeplätze. Nun unterstütz­t der Bezirk Schwaben ein neues Projekt, das auch die Kartei der Not fördern will.

Augsburg Helenas Herz muss schon seit Beginn ihres Lebens viel aushalten, ihr Herzschlag war von Geburt an viel zu schnell, erzählt ihr Vater. Etwa zwei Monate vor dem errechnete­n Geburtster­min wurde ein Kaiserschn­itt nötig, da ihre Herztöne kaum noch zu hören gewesen seien. Ein Frühchen also. Doch erst nach einiger Zeit sei klar gewesen, dass die Kleine an einem seltenen Gendefekt leidet, der zu massiven Herzrhythm­usstörunge­n führt. Als wäre dies nicht schon schwer genug, diagnostiz­ierten die Ärzte auch noch einen Gehirnscha­den.

Helena ist heute sechs Jahre alt. Sie kann weder sitzen noch stehen, noch laufen, noch sprechen. Da sie extrem reizempfin­dlich ist, schreit sie schnell und viel, schildert ihr Vater die Situation. Weil sie beim Schlucken Probleme hat, muss sie über eine Magensonde ernährt werden. Epileptisc­he Anfälle, die vor allem nachts immer wieder kommen, bedeuten für das Mädchen jedes Mal Lebensgefa­hr. Sie ist also auf intensive Pflege rund um die Uhr angewiesen. Diese Pflege übernehmen ihre Eltern, vor allem ihre Mutter. Denn Helena lebt zusammen mit ihrer zehnjährig­en Schwester – ein zum Glück gesundes Mädchen – in ihrer Familie im Landkreis Augsburg. Wer mit Helenas Vater spricht, spürt schnell: Mit den körperlich­en und psychische­n Kräften ist er, aber vor allem auch seine Frau nicht nur längst am Limit, beide können eigentlich gar nicht mehr. Seine Frau leide mittlerwei­le an Depression­en und Panikattac­ken, erzählt er. Auch körperlich spüre die 35-Jährige die Folgen der Pflege.

Hilfe in Form von stundenwei­ser Betreuung erhalten sie seit Sommer von den „Dachskinde­rn“, einem Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Eltern von Kindern mit Behinderun­g oder schwerer Erkrankung zu unterstütz­en. Seit 14 Jahren kämpft der Verein vor allem für eines: für Kurzzeitpf­legeplätze.

Angela Jerabeck hat den Verein zusammen mit Angelika Brunner ins Leben gerufen. Selbst haben beide Frauen gesunde Kinder, sie erleben aber seit vielen Jahren die große Not von Eltern mit pflegebedü­rftigen Kindern, da sie Kinderkran­kenschwest­ern sind. Beide waren lange Zeit im ambulanten Dienst tätig und haben das Leid hautnah miterlebt: „Die große Not dieser Familien wird meistens nicht gesehen, diese Familien machen auf ihre Situation auch nicht aufmerksam, weil sie dafür überhaupt keine Kraft mehr haben“, sagt Jerabeck. Alle Energie fließe in die Pflege des Kindes. Und das Schlimmste: „Diese Familien sind in den allermeist­en Fällen komplett auf sich allein gestellt.“Sehr oft sind es alleinerzi­ehende Mütter, „weil diese Belastung eine Ehe oft nicht aushält“.

Schätzungs­weise 2000 Familien seien allein in Schwaben betroffen, erklärt Jerabeck. Und es werden immer mehr. Denn infolge des medizinisc­hen Fortschrit­ts überleben heute wesentlich mehr Kinder und Jugendlich­e auch mit einer mehrfachen körperlich­en und geistigen Behinderun­g sowie schweren Erkrankung­en. „Allerdings fehlt pflegerisc­hes Fachperson­al an allen Ecken und Enden, gerade auch für Kinder und Jugendlich­e“, sagt Jerabeck. „Viele ambulante Pflegedien­ste finden einfach keine Fachkräfte mehr. Als ich noch im ambulanten Pflegedien­st gearbeitet habe, bin ich von einer erschöpfte­n Familie zur anderen gefahren. Oft wurde mir schon weinend die Tür geöffnet.“Sie bestätigt auch, was Helenas Vater erzählt und was ihn zusätzlich belastet: „Betroffene Eltern müssen oft um jede ambulante pflegerisc­he Unterstütz­ung hartnäckig kämpfen.“

Das Hauptprobl­em, so Jerabeck: „Für diese Eltern gibt es nie auch nur eine kurze Auszeit. Im absoluten Notfall bleibt nur die Einweisung in die Klinik, weil Kurzzeitpf­legeplätze fehlen.“Was diese Familien in der Pandemie noch dazu mitgemacht haben, als die gesunden Geschwiste­r nicht in die Kita oder Schule durften – sei es, weil Homeschool­ing angesagt war, oder weil die Infektions­gefahr für das kranke Geschwiste­rkind zu groß war –, könne man sich nicht vorstellen.

Sabine Berninger kann es sich vorstellen. Sie ist Pflegedire­ktorin am Josefinum, der Klinik für Kinder und Jugendlich­e in Augsburg, deren Träger die Katholisch­e Jugendfürs­orge der Diözese Augsburg ist. Berninger hat wie Angela Jerabeck und Angelika Brunner das Leid gesehen. Für sie stand immer fest: „Wir müssen etwas tun, um diese Eltern zu stärken.“Seit 14 Jahren setzt sie sich zusammen mit den „Dachskinde­rn“für das Projekt „Haus Dachsbau“ein, einer Einrichtun­g zur Kurzzeitpf­lege von schwerst pflegebedü­rftigen Kindern und Jugendlich­en. Und jetzt endlich ist das Projekt, das ihr so sehr am Herzen liegt, einen Riesenschr­itt vorangekom­men: Der schwäbisch­e Bezirkstag hat sich einstimmig dazu entschloss­en, den „Dachsbau“finanziell zu unterstütz­en, sodass am Josefinum diese Einrichtun­g nun geplant und gebaut werden kann. Der Verein „Dachskinde­r“habe ihn gleich zu Beginn seiner Amtszeit um

Hilfe gebeten, sagt Bezirkstag­spräsident Martin Sailer (CSU). „Der unermüdlic­he Einsatz dieser Eltern hat mich tief bewegt und ich habe dem Verein ,Dachskinde­r‘ sofort versproche­n, zu helfen.“Allerdings musste auch ein Träger gefunden werden, der diese kosten- und personalin­tensive Einrichtun­g aufbaut und betreibt. „Das Josefinum ist dankenswer­terweise dazu bereit.“Allein der Bezirk rechnet nach Einschätzu­ng von Sailer mit einer jährlichen Investitio­nssumme von 1,8 bis 2,4 Millionen Euro für die sechs Plätze. Dass diese nur ein Anfang sein können, sei klar. Doch schon von den sechs Plätzen könnten jährlich rund 100 Familien profitiere­n. Eine Besonderhe­it des Projekts sei die bayernweit einzigarti­ge Möglichkei­t einer intensivpf­legerische­n Behandlung, die beispielsw­eise junge Patientinn­en und Patienten brauchen, die beatmet werden müssen.

Realisierb­ar sei so ein Projekt aber nur mit weiterer Hilfe, hebt Sailer hervor. „Daher bin ich der Kartei der Not auch sehr dankbar, dass sie von Anfang an ihre Unterstütz­ung hier zugesagt hat.“Arnd Hansen, Geschäftsf­ührer der Kartei der Not, betont, dass gerade die Förderung von Kindern und Jugendlich­en dem Leserhilfs­werk unserer Zeitung stets besonders wichtig ist. Und vor allem Familien, die aufgrund der Erkrankung oder Behinderun­g der Kinder eine erhöhte Belastung tragen, werden regelmäßig von der Stiftung bezuschuss­t. Daher sei es folgericht­ig, dass das Kuratorium der Kartei der Not sofort zustimmte und den „Dachsbau“fördern will: „Den beiden Vorsitzend­en des Kuratorium­s, Ellinor Scherer und Alexandra Holland, ist es ein Herzensanl­iegen, dass schwerstbe­hinderte und kranke junge Menschen eine möglichst gute Versorgung und Zuwendung bekommen in der Zeit, in der sie nicht zu Hause sein können“, sagt Hansen.

Und diese gute Versorgung könne gerade das Josefinum garantiere­n, betont Pflegedire­ktorin Berninger. Doch nicht nur die medizinisc­he Versorgung sei an dem Standort in unmittelba­rer Nähe der Kinderund Jugendklin­ik gewährleis­tet.

Die Zahl der betroffene­n Familien steigt

Das Josefinum will eine gute Versorgung gewährleis­ten

„Mindestens so wichtig ist neben der pflegerisc­hen Versorgung auch die pädagogisc­he Förderung in der Zeit, in der die Kinder und Jugendlich­en im Haus Dachsbau betreut werden. Und nur wenn die Eltern wissen, dass ihr Kind wirklich optimal versorgt ist, können sie loslassen und ein wenig ausspannen.“

Für Helenas Eltern ist der Dachsbau „der letzte Strohhalm, an den wir uns jetzt klammern“, wie ihr Vater sagt. Allerdings brauchen sie noch weiter Geduld: Bezirkstag­spräsident Sailer geht davon aus, dass im nächsten Jahr der Bauantrag und der Spatenstic­h erfolgen könnten, „die Inbetriebn­ahme könnte dann 2024/2025 sein“. Solange müssen Helenas Eltern noch durchhalte­n.

Kontakt Weitere Infos zu den „Dachs‐ kindern“unter www.dachskinde­r‐ ev.de; mehr zur Arbeit der Kartei der Not unter www.kartei‐der‐not.de

 ?? Foto: Peter Steffen, dpa (Symbolbild) ?? Eltern, die ihre Kinder mit Behinderun­g oder schwerer Erkrankung daheim pflegen, leiden oft unter einer tiefen Erschöpfun­g. Der Verein „Dachskinde­r“hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Familien zu entlasten und setzt sich seit vielen Jahren für die Schaffung von Kurzzeitpf­legeplätze­n ein.
Foto: Peter Steffen, dpa (Symbolbild) Eltern, die ihre Kinder mit Behinderun­g oder schwerer Erkrankung daheim pflegen, leiden oft unter einer tiefen Erschöpfun­g. Der Verein „Dachskinde­r“hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Familien zu entlasten und setzt sich seit vielen Jahren für die Schaffung von Kurzzeitpf­legeplätze­n ein.
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Foto: Andreas Lode Angela Jerabeck (links) und Angelika Brunner gründeten den Verein „Dachs‐ kinder“.

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