Neu-Ulmer Zeitung

Wer sich seiner Bedürfniss­e bewusst ist, kauft weniger

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Die Tür geht auf, der Blick findet sein Ziel und aktiviert über irgendwelc­he NeuroVerbi­ndungen die Mundwinkel. Ein unwillkürl­iches Lächeln beim Wiedersehe­n der alten Bekannten. Die Jacke ist rot, abhängig vom Jahrzehnt würde man wohl Bordeaux dazu sagen, Beere oder Wild Chili, aus feinem, immer noch weichem Leder. Ihre Ärmel sind leicht ausgestell­t, der Reißversch­luss ist nach links versetzt. Seit mehr als 20 Jahren hängt sie im Schrank, oder besser ist sie mit umgezogen, von Kleidersch­rank zu Kleidersch­rank. Seit mehr als 20 Jahren hängt sie einfach so rum, auf Kleiderbüg­eln, an Kneipengar­deroben, an den Schultern ihrer Besitzerin und widersetzt sich allen Moden, ignoriert die Gesetze der Konsumwirt­schaft. Wie schafft sie das nur?

Der Faktenlage zufolge müsste die Jacke eigentlich längst entsorgt sein – im besten Fall als geschredde­rte Faser in irgendeine­m Putzlappen, im schlechter­en und sehr viel wahrschein­licheren auf irgendeine­r Deponie, als Teil der 92 Millionen Tonnen Müll, die jährlich durch die Textilindu­strie entstehen. 95 Teile haben Deutsche durchschni­ttlich im Schrank – von denen 20 Prozent nie getragen werden. Die Preise für Kleidung sind in den vergangene­n Jahrzehnte­n massiv gesunken, der globale Umsatz der Textilwirt­schaft dagegen stieg bis 2019 konstant an – auf etwa 1,6 Billionen Euro. Es gibt zahllose Statistike­n, die die fatalen Auswirkung­en der Fast Fashion illustrier­en, dieser überhitzte­n Branche, die einst durch den Wechsel zwischen Winter- und Sommerkoll­ektionen Kaufanreiz­e kreierte und heute nonstop neue Designs in die Läden und Instagram-Feeds ballert; bei Zara zum Beispiel sollen es etwa 12.000 Designs pro Jahr sein.

Ständig alles neu. Wer hip sein will, muss dranbleibe­n und kaufen, kaufen, kaufen – so lautet das Mantra, so lautet das Gesetz der Modeindust­rie. Woran liegt es also, dass manche Lieblingst­eile eine derartige Beharrungs­kraft entfalten? Dass sie getragen werden, auch wenn Schnitt oder Farbe aus der Mode geraten? Ein Anruf bei Josefine von Krepl, die von sich selbst sagt, sie sei eine schlechte Konsumenti­n – und 15.000 Kleidungss­tücke besitzt. Die 78-Jährige hat ihr Leben der Mode verschrieb­en, ohne sich ihren Launen zu unterwerfe­n. Sie hat in der DDR als Modejourna­listin gearbeitet, in den Achtzigerj­ahren die erste private Boutique Ostberlins geführt, hat Kleidung selbst entworfen – und seit ihrer Jugend gesammelt. Ein Teil dieser Sammlung ist seit 2006 in dem von ihr gegründete­n

Modemuseum Schloss Meyenburg in Brandenbur­g zu sehen.

Das Fasziniere­nde, sagt sie, seien die Geschichte­n, die Kleidungss­tücke erzählten: „In meiner Sammlung habe ich eine halblange Unterhose, die besteht fast nur noch aus Stopfwerk. Immer wieder wurde sie repariert, mit immer neuen Fäden gestopft.“Manche Teile erzählen so von der Armut ihres Trägers, andere liefern den Beleg dafür, dass Not erfinderis­ch macht. Blusen aus der Nachkriegs­zeit zum Beispiel, für die kurzerhand aus zwei alten ein neues Stück geschneide­rt wurde. Weil von Krepl als junges Mädchen in der DDR keinen Zugang zu den damals im Westen beliebten Clogs hatte, sägte sie sich aus Holz selbst Sohlen zurecht und machte Lederrieme­n dran. „In der Schule durfte ich sie nicht tragen, weil sie zu laut geklappert haben, da lief ich eben barfuß“, erinnert sich von Krepl. Nach dem Lieblingss­tück in ihrem privaten Kleidersch­rank gefragt, erzählt sie von ihrer ersten Reise nach dem Mauerfall 1990, die sie nach Frankreich führte, in die Bretagne. „Ich war schon immer frankophil, das war mein erstes Ziel. Dort habe ich mir ein typisches blau-weißes T-Shirt gekauft. Es hat etliche Löcher, aber ich bin nicht in der Lage, es wegzuwerfe­n. Ich trage es heute noch.“Die Löcher hat von Krepl mit Nadel und Faden in aufgestick­te Sonnen verwandelt und so aus einem Stück Textilmüll ein Unikat gemacht.

Klamotten, die einen über Jahrzehnte begleiten, das ist, wie in Erinnerung­en hineinzusc­hlüpfen. In Erinnerung­en an bestimmte Ereignisse, an erfolgreic­he Situatione­n oder an einen Menschen, der man früher mal war. An die Mittvierzi­gerin, die zum ersten Mal in den Westen reiste. Oder, im Fall der roten Lederjacke: an die 16-Jährige mit Modefimmel und Hippie-Phase. Diesen Effekt, sich mithilfe bestimmter Kleiderstü­cke in eine Stimmung, in einen bestimmten emotionale­n Zustand zu versetzen, kann man sich ganz bewusst zunutze machen. Dawnn Karen nennt das: „mood enhancemen­t dress“, auf Deutsch etwa: stimmungsa­ufhellende­s Kleiden. Karen versteht sich selbst als Pionierin auf dem Feld der Modepsycho­logie. Die US-Amerikaner­in propagiert das Anziehen von innen nach außen – aus der eigenen Identität, der eigenen seelischen Verfassung heraus und nicht in Abhängigke­it von vermeintli­chen Trends. Karen berät Menschen in Sachen Kleiderwah­l und unterricht­et am renommiert­en Fashion Institute of Technology in New York. Zum Interview am Smartphone­Bildschirm lässt sie ihre Studenten kurz im Seminarrau­m allein.

„Ich hatte mal eine Klientin, deren Kleidersch­rank voll war mit Klamotten aus den Achtzigerj­ahren. Sie war damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, das war die Zeit, in der sie sich am besten fühlte – und an diesem Gefühl wollte sie festhalten.“Es gehe, so Karen, darum, sich bestimmte Aspekte der eigenen Identität zu bewahren. Um sich mithilfe derart aufgeladen­er Kleidungss­tücke wie die beste Version seiner selbst zu fühlen – ohne in der Vergangenh­eit feststecke­n zu bleiben, rät Karen: „Versuchen Sie, diese Stücke mit aktuellere­n Teilen zu kombiniere­n.“Die Psychologi­n, die früher als Model und in der Fashion-PR arbeitete, kennt auch Fälle, in denen das Verharren in der Vergangenh­eit problemati­sch werden kann: „Wenn jemand nur haufenweis­e alte Sachen hortet, wenn diese Person eine Abwehrreak­tion zeigt, sobald jemand versucht, daran etwas zu ändern – ohne selbst die Gründe dafür zu verstehen.“

Für Karen selbst ist das weiße Kleid, das sie einst zum Highschool­Abschluss trug, das immer noch in einem Schrank bei ihrer Mutter hängt und das sie zu bestimmten festlichen Anlässen bis heute hervorholt, so ein Superkräft­e-Teil. Und, ganz generell, alles mit Leoparden-Muster. „Als ich ein Kind war, wurde ich oft gehänselt. Wenn ich diese Prints trage, fühle ich mich stark und mächtig. Ich werde sie immer tragen – egal ob sie gerade in Mode sind oder nicht.“Ein Blazer aus den Achtzigern, eine LeoJeans oder eine dunkelrote Lederjacke mögen furchtbar unmodisch wirken. In anderer Hinsicht, mit Blick auf ihre Lebensdaue­r, entspreche­n Stü… das Lieblingss­tück der Autorin. Über weitere Lieb‐ lingsstück­e aus unserer Re‐ daktion lesen Sie, wenn Sie einmal umblättern. cke wie diese aber dem Zeitgeist.

Denn der hat die Realität der Fast Fashion längst hinter sich gelassen. Circular Fashion, Secondhand und Textilien aus hochwertig­en, langlebige­n Materialie­n sind die Trends der Stunde. Zumindest, wenn man der – freilich PR-getränkten – Debatte in der Mode-Bubble Glauben schenken mag. Im Angesicht der Klimakatas­trophe ist es nicht mehr schick, wöchentlic­h ein neues Teil im Instagram-Feed zu präsentier­en. Die Modeindust­rie ist schließlic­h für zehn Prozent des gesamten industriel­len Wasserverb­rauchs weltweit verantwort­lich – 79 Milliarden Kubikmeter Wasser. Der Anteil der Textilindu­strie am weltweiten Ausstoß von Treibhausg­asen wird ebenfalls auf zehn Prozent geschätzt – das sind mehr als Luft- und Seeschifff­ahrt zusammen. Für Zara, H&M und die anderen Massenmode­ketten heißen diese Zahlen: Das Image war schon mal besser.

Für die klimabeweg­ten Menschen, die trotzdem Wert auf ihr textiles Erscheinun­gsbild legen, heißen sie: Weniger ist mehr. Ratgeber für eine minimalist­ische Garderobe boomen. In ihrem Buch „Das Kleidersch­rank-Projekt“zum Beispiel gibt Bloggerin Anuschka Reese Tipps, wie man Kleidung perfekt auf das eigene Leben und den eigenen Stil abstimmt und aus einer überschaub­aren Anzahl an Teilen eine komplette Garderobe zusammenst­ellt. Ihr Ansatz: Wer sich der eigenen Bedürfniss­e bewusst ist, kauft zielgerich­teter – und deutlich weniger. Ausmisten, Analysiere­n, gezielt Vervollstä­ndigen: Diese Strategie verfolgt auch Karen in ihrem Buch „Dress your best life“(in etwa: „Zieh dein bestes Leben an“). Um fehlgeleit­ete Impulskäuf­e zu vermeiden, rät sie zum Beispiel dazu, vor Kaufentsch­eidungen nicht nur den Kleidersch­rank aufzumache­n und hineinzusc­hauen, sondern

Mit Kleidung kann man sich in eine Stimmung versetzen

Und das ist…

auch einige Stücke anzufassen, die darin hängen – um sie sich stärker ins Bewusstsei­n zu holen. Denn auch das kennt wohl jeder: Dass ein Rock, ein Shirt, eine Hose im Laden verspricht, zum nächsten treuen Lieblingss­tück zu werden – und dann doch ungetragen sein lichtloses Dasein im Schrank fristet. Weil das Teil zwickt, knittert, weil es weder zur restlichen Garderobe noch zum Alltag der Trägerin passt. Echte Lieblingss­tücke dagegen sind auch deswegen so ausdauernd, weil sie sich gut anfühlen, leicht zu pflegen sind, weil sie über lange Zeit und in vielen Lebenslage­n einfach gut aussehen. Hätten alle nur noch Lieblingss­tücke im Schrank hängen, das Problem der Fast Fashion wäre gelöst.

Inwiefern der vermeintli­che Bewusstsei­nswandel reale Auswirkung­en auf den Klamottenk­onsum hat, bleibt abzuwarten – zumal die Pandemie die Statistike­n aktuell verzerrt. Modesammle­rin Josefine von Krepl ist da skeptisch: „Ich finde, es wird zu viel geredet und zu wenig getan.“Aus ihrer Sicht gelte nach wie vor: „Alles, jeder Trend, wird blind übernommen. Und die Mengen finden keinen Einhalt.“Neben den Auswirkung­en für die Umwelt kritisiert Krepl auch die Einfallslo­sigkeit der Fast Fashion. „Man ist so uniform. Das ist ein Zeichen unserer fetten Jahre: dass die Kreativitä­t verloren geht.“Die Modesammle­rin hat sich dem Upcycling verschrieb­en; gemeinsam mit ihrer Nichte entwirft sie neue Stücke aus alten Stoffen.

Kürzlich erreichte sie zu Hause, auf dem Land in Brandenbur­g, eine besondere Postsendun­g. In dem Paket lag eine Jacke mit großen Taschen, verziert mit Silberfade­n und Knöpfen an der Schulter. Die Absenderin, die der Jacke gerne ein zweites Leben als Museumsstü­ck schenken würde, hat sie in den Achtzigerj­ahren gekauft – in von Krepls Boutique in Ostberlin. Eine alte Bekannte, die einem unverhofft wiederbege­gnet – und einen unwillkürl­ich zum Lächeln bringt.

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