Neu-Ulmer Zeitung

Tierisches Leid

- VON TILL MAYER UND SARAH RITSCHEL

Krieg Auf den Straßen der umkämpften ukrainisch­en Städte leben mittlerwei­le Zehntausen­de herrenlose­r Tiere. Für Hund und Katze ist oft kein Platz im Fluchtgepä­ck. Ehrenamtli­che in Lwiw kümmern sich um die vierbeinig­en Kriegsopfe­r – und riskieren dafür nicht selten ihr Leben.

Lwiw Das kleine Wildgehege etwas abseits der Altstadt von Lwiw (Lemberg) war vor der russischen Invasion in der Ukraine eher ein Geheimtipp für Touristinn­en und Touristen. Besonders die stolzen Jagdvögel zogen aber doch so manchen Besucher an. Die Falken in der großen Voliere inmitten des Geländes haben seit Ende Februar einen ungewöhnli­chen Ausblick. Vor den Vögeln türmen sich Berge an Tierfutter auf. Manche Fleischdos­en und Trockenfut­tersäcke stammen von einschlägi­gen Marken, die in deutschen Supermärkt­en zu finden sind. Aber auch viele Wörter in polnischer Sprache sind auf den Kartons und Plastiksäc­ken aufgedruck­t.

Natalia kniet vor einem der großen Essenstürm­e. Die Sonne wirft einen leicht rötlichen Schimmer durch die Plastikpla­nen auf das aufgestape­lte Tierfutter. Zwei nicht ganz reinrassig­e Schäferhun­de trotten gemächlich zu der 30-Jährigen, um sich eine Streichele­inheit abzuholen. Einer der Hunde legt seinen Kopf auf ihr Knie, klappt die Ohren aus und schließt genüsslich die Augen, als Natalia durch sein Fell streicht. „Ein wenig Trost, das haben wir alle in diesen furchtbare­n Zeiten nötig“, sagt sie mit einem Lächeln. Natalia arbeitet eigentlich in einer Werbeagent­ur, ihr Einsatz ist ehrenamtli­ch.

Das Wildgehege ist zu einem Umschlagpl­atz und Zufluchtso­rt geworden. Die Futterberg­e sind nicht für die heimischen Tiere gedacht. Sie werden an Orte geliefert, die jetzt als umkämpfte Städte Schlagzeil­en in den Medien machen. „Unsere Freiwillig­en liefern nach Kiew, Mykolajiw, Saporischs­chja und selbst Charkiw“, erzählt die junge Frau nicht ohne Stolz in der Stimme. „Dafür nehmen sie große Gefahren auf sich.“

Wenn Menschen aus der Ukraine vor dem Krieg fliehen, müssen sie ihre Haustiere oft zurücklass­en. Oder beide bleiben, Haustier und

Besitzer, doch der Zugang zu Futter ist ihnen nicht mehr möglich. Tierschütz­erinnen und Tierschütz­er riskieren ihr Leben, um die Tiere vor dem Tod zu bewahren.

Schon kurz nach Beginn der russischen Invasion hat sich der besorgte, mitfühlend­e Blick der Menschen auch in Deutschlan­d auf die Tiere in der Ukraine gerichtet. Das mag zunächst zweitrangi­g sein, doch wer selbst ein Haustier besitzt oder besaß, weiß, wie sehr ein Hund, eine Katze, ein Wellensitt­ich und jedes andere Tier innerhalb kürzester Zeit Teil der Familie werden. Der Gedanke an eine Trennung? Herzzerrei­ßend. Europaweit spenden Menschen für die Versorgung der Tiere: Allein die Organisati­on Peta berichtet von 220.000 Kilogramm Tiernahrun­g, die mithilfe von Spendengel­dern ins Krisenland gebracht werden konnten. „Der Krieg macht auch vor Tierheimen nicht halt“, erklärt Natalia.

55 Kilometer nordwestli­ch von Kiew liegt die Kleinstadt Borodjanka. Die Menschen dort mussten schweren russischen Beschuss ertragen. „Auch die Tiere. Unsere Freiwillig­en unterstütz­ten deshalb die örtlichen Tierschütz­er mit Futterlief­erungen“, erzählt die Ehrenamtli­che. Mit einem großen Lastwagen voller Tiernahrun­g gehe es vom Wildgehege dann zum sicheren Verteilung­spunkt in Borodjanka, berichtet Natalia. Dort holen örtliche Helferinne­n und Helfer das Tierfutter mit Autos und Kleintrans­portern ab. Dann bringen sie es zu Tierheimen und Privatpers­onen. „Oft nehmen einzelne Menschen viele, viele Tiere auf. Hier in Lwiw haben wir gleich mehrere, die einen Unterschlu­pf für über 20 Katzen geben.“

In Borodjanka haben die russischen Besatzer auch das Gelände des Tierheims eingenomme­n. Als sich die Rettungskr­äfte näherten, um nach den Hunden und Katzen zu sehen, sei in ihre Richtung geschossen worden. „Mittlerwei­le ist der Kontakt nach Borodjanka abgebroche­n“, sagt Natalia. In ihrem Blick liegt Besorgnis.

Neben dem Futter-Drehpunkt ist das Wildtierge­hege auch ein Schutzraum für Tiere. „Einige der Menschen, die von Lwiw aus nach Polen oder Ungarn fliehen, können ihre Haustiere nicht mitnehmen. Wir nehmen die Tiere auf. 600 Hunde und Katzen wurden schon bei uns abgegeben“, erklärt Natalia. „Wir impfen sie, wenn nötig, und vermitteln sie in die EU.“Peta habe schon 200 Tiere nach Deutschlan­d gebracht und unterstütz­e sie auch mit Futter.

„Es ist schlimm, was dieser Krieg mit Mensch und Tier macht“, sagt die Ukrainerin. In der eingeschlo­ssenen Stadt Mariupol wäre mittlerwei­le mancher Bewohner froh um eine Dose Hundefutte­r, um überhaupt etwas zu essen zu bekommen. Natalia weiß das, und wie fast jeder Mensch mit Herz kann sie den Gedanken kaum ertragen.

Die Ukrainerin­nen und Ukrainer, die es geschafft haben, Hund, Katze, Nager oder Vogel gemeinsam mit sich selbst aus dem Kriegsgebi­et zu retten, dürfen ihre mitgebrach­ten Haustiere in Deutschlan­d behalten – aber nur, wenn sie bereits eine eigene Unterkunft haben. Darauf haben sich die Bundesländ­er in der vorvergang­enen Woche geeinigt. Angesichts der „schweren Krisensitu­ation“sollten Haustiere möglichst nicht von den Haltern getrennt werden, darin sind sich die Tierschutz­beauftragt­en der Länder einig. Das gilt auch dann, wenn die Besitzerin­nen und Besitzer auf ihrer Flucht nicht vorher noch die eigentlich notwendige­n Papiere über Impfungen zusammenra­ffen konnten.

In Sammelunte­rkünften ist eine gemeinsame Unterbring­ung allerdings nicht möglich. Die Länder begründen die Entscheidu­ng damit, dass die Unterkünft­e oft erstens nicht für Tiere ausgelegt seien und man zweitens Gesundheit­sgefahren für die übrigen Flüchtling­e dort ausschließ­en müsse. Private Tierschutz­organisati­onen sollen bei der Vermittlun­g der Tiere an neue Halterinne­n und Halter helfen.

Wie schwierig das ist, weiß auch Natalia in Lwiw: „Trotz Kriegschao­s müssen wir darauf achten, dass die Tiere nicht in falsche Hände geraten“, sagt sie. Die größte Herausford­erung seien gerade Impfstoffe. „Da nähern sich unsere Bestände dem Ende. Ohne Impfungen können wir die Tiere nicht vermitteln“, erklärt die Frau. Zurzeit sind 15 Hunde und Katzen in ihrer Einrichtun­g untergebra­cht. „Morgen kommen noch mal gut 60 Tiere aus dem Kiewer Raum bei uns an.“

Dann führt Natalia zu den Vierbeiner­n. „Die Hunde und Katzen sind oft schwer traumatisi­ert. Vor allem durch die Flucht, aber nicht selten auch durch Kampfhandl­ungen, die sie mitbekomme­n haben. Sie können natürlich nicht im Geringsten verstehen, was passiert. Aber auch für mich als Mensch ist das alles andere als leicht“, erklärt die 30-Jährige. „Die Tiere verkrieche­n sich dann in die hinterste Ecke ihres Zwingers oder ihrer Hundehütte. Es tut weh, diese Angst zu sehen“, sagt sie und schüttelt traurig den Kopf. In der Quarantäne­station sieht man, was sie meint. Zuerst wirken viele der gekachelte­n Boxen, als wären sie leer. Erst wenn man bei einer genauer ins Halbdunkel blickt, sieht man aus dem hintersten Eck zwei Katzenauge­n hervorleuc­hten. Das Tier zittert vor Angst.

Um die Mündel vor noch mehr Leid zu bewahren, hat auch der Deutsche Tierschutz­bund sein Aufnahmeze­ntrum in Odessa am Schwarzen Meer evakuiert. 44 Hunde und 15 Katzen seien wohlbehalt­en in einem rumänische­n Übergangsh­eim angekommen, heißt es aus der Zentrale in Bonn.

Doch die deutschen Tierrettun­gskräfte setzen in der Ukraine weiter ihr Leben aufs Spiel: Sie wollen sich so lange es geht weiter um die Straßentie­re und neue ausgesetzt­e, zurückgela­ssene Tiere in Odessa kümmern. Auch im polnischen Grenzgebie­t sind sie im Dauereinsa­tz. Auf seiner Facebook-Seite erzählt der Tierschutz­bund rührende Geschichte­n: von der Frau etwa, die ihren Wellensitt­ich auf der Flucht unter ihrem Pullover schützte, von der Katze, die in einem einfachen Hutkarton versteckt wurde, von einer Sporttasch­e mit verängstig­ten Meerschwei­nchen. Sie alle sind traumatisi­ert, aber in Sicherheit.

Und während in ganz Deutschlan­d Notunterkü­nfte für die mittlerwei­le mehr als 230.000 hierher geflüchtet­en Menschen entstehen, Privatleut­e ihre Wohnungen öffnen, nehmen auch die Tierheime in der Bundesrepu­blik Tag für Tag Neuankömml­inge auf – in Augsburg zum Beispiel. Dabei geht es gar nicht immer darum, für die Gestrandet­en neue Besitzer zu finden. Yorkshire-Terrier Lucky etwa war eines der ersten Flüchtling­stiere, die in der Fuggerstad­t angekommen sind. Er gehört einer Ukrainerin und ihrem Sohn, brauchte dringend eine Tollwut-Impfung – und bekam sie bei der kostenlose­n Sprechstun­de für ukrainisch­e Fluchttier­e und ihre Besitzer im Augsburger Heim. Erst die Injektion erlaubte es Lucky, mit seiner Familie weiter nach Großbritan­nien zu reisen – er hat jetzt einen europäisch­en Impfpass.

Natalia im Wildtierge­hege von Lwiw muss sich jetzt verabschie­den, mit ihrem Team alles für die Tiere vorbereite­n, die am nächsten Tag hier ankommen sollen. In der Voliere hinter ihr sitzt unbeweglic­h wie eine Statue ein mächtiger Adler, der aus Charkiw hergebrach­t wurde. „Es ist eine unfassbar schrecklic­he Zeit“, sagt Natalia. Doch sie will nicht gehen, ohne ein wenig Hoffnung zu verbreiten – und erzählt noch schnell von der Katze Musa.

Eine Familie musste sie vor wenigen Tagen abgeben, weil in ihrer Unterkunft im Zielland Polen keine Tiere erlaubt waren. „Für die kleine Tochter war das etwas Furchtbare­s, Musa zurücklass­en zu müssen“, erinnert sich die ehrenamtli­che Retterin. „Als die Familie bei uns war, fand sich im selben Augenblick eine Frau, die das Tier mitnahm. Sie schickt dem Mädchen jetzt jeden Tag mit dem Smartphone ein Foto von ihrer Katze.“

Mancher Mensch wäre froh um eine Dose Hundefutte­r

Yorkshire‐Terrier Lucky darf jetzt nach Großbritan­nien

 ?? Fotos: Till Mayer ?? Natalia ist ehrenamtli­che Tierschütz­erin. Sie kümmert sich in Lwiw um die vierbeinig­en Opfer des Krieges – auch um diese zwei Hunde. Im Hintergrun­d sind die Berge an Tierfutter zu sehen, die in andere Städte gebracht werden.
Fotos: Till Mayer Natalia ist ehrenamtli­che Tierschütz­erin. Sie kümmert sich in Lwiw um die vierbeinig­en Opfer des Krieges – auch um diese zwei Hunde. Im Hintergrun­d sind die Berge an Tierfutter zu sehen, die in andere Städte gebracht werden.
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Auch die Tiere sind traumatisi­ert: Diese Katze sucht Schutz im hintersten Winkel ih‐ rer Box in der Auffangsta­tion.

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