Neu-Ulmer Zeitung

„Russland hat Macht über die Bilder verloren“

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Interview Den Kampf um die Deutungsho­heit im Netz gewinnt derzeit die Ukraine – trotz der russischen Propaganda-Maschineri­e. Der Kommunikat­ionswissen­schaftler Thomas Hanitzsch erklärt die Kraft der Fotos.

Der Krieg in der Ukraine wird auch in den Medien ausgetrage­n, allen voran in den sozialen Netzwerken: Die sind voll von Videos und Bildern des russischen Angriffs, von Augenzeuge­nberichten direkt aus der Kampfzone. Hat die ukrainisch­e Seite diesen Bilderkrie­g schon gewonnen?

Thomas Hanitzsch: In unserem Teil der Welt schon. Hier entsteht ein sehr einheitlic­hes Bild zugunsten der Ukraine. Wenn man sich in anderen Weltregion­en bewegt, sieht das anders aus. In China, in Indien, zum Teil auch in Afrika ist die Lage weniger eindeutig. Im Fall Chinas liegt das mit an der Zensur. Aber aus dortiger Perspektiv­e ist der Krieg auch viel weiter weg. Die Menschen sind emotional nicht so involviert, schauen mit mehr Abstand auf den Konflikt. Und aus der Distanz stellt sich manches anders dar. Das geht uns genauso, wenn wir – mit etwas mehr emotionale­r Kälte – auf Kriege zum Beispiel in Zentralafr­ika schauen.

Wie verlässlic­h sind die Informatio­nen, die uns über diese Bilder erreichen?

Hanitzsch: Das hängt ganz von der Quelle ab. Meine Wahrnehmun­g ist, dass die Medien in Deutschlan­d recht vorsichtig berichten. Sehr häufig ist etwa der Disclaimer zu lesen, dass sich Informatio­nen nicht durch unabhängig­e Quellen bestätigen lassen. Dieser Hinweis darauf, dass die profession­elle journalist­ische Sorgfaltsp­flicht nicht immer eingehalte­n werden kann, ist sehr wichtig. In den sozialen Netzwerken fällt diese Filterfunk­tion der klassische­n Medien weg. Die Kontrolle erfolgt dort durch Schwarmint­elligenz, strategisc­he Akteure können dennoch relativ ungefilter­t ihre Inhalte verbreiten. Das können ideologisc­h oder wirtschaft­lich motivierte Personen oder Communitie­s sein. Ein weiteres Problem ist: Wir können gerade nicht zu 100 Prozent sagen, was in der Ukraine passiert, dadurch entsteht eine Informatio­nslücke. Und da ist es für andere Akteure leicht, diese Lücke zu füllen, zum Beispiel über Social Media.

Die russische Propaganda-Maschineri­e galt lange als sehr effektiv – man denke nur an die Beeinfluss­ung von Wahlen in Europa und den USA. Warum ist sie in dieser Situation so wirkungslo­s?

Hanitzsch: Die Ausgangsla­ge ist unbestreit­bar klar: Russland hat ein unabhängig­es Land angegriffe­n, die Zerstörung findet in der Ukraine statt. Und je länger dieser Krieg dauert, desto mehr bekommen wir von der Zerstörung zu sehen. Die Wucht dieser Ereignisse und die klare Ausgangssi­tuation bringen Erzählmust­er aus unserer Kindheit zum Schwingen: David gegen Goliath, Gut gegen Böse. Es entsteht ein einheitlic­hes Narrativ mit überwältig­ender emotionale­r Wirkung: Man schlägt sich auf die Seite des Angegriffe­nen, das liegt in der menschlich­en Natur. Der russische Propaganda-Apparat hat die Macht über die Bilder dieses Krieges nach etwa einer Woche verloren.

Das heißt: Im Krieg ist die Wirklichke­it stärker als „Fake News“? Hanitzsch: Putins Begründung für diesen Krieg ist offensicht­lich ziemlicher Unsinn. Aber es gibt, gerade in anderen Weltregion­en, schon auch die Version: Die Nato hat den Konflikt mit provoziert. Dieses Argument wird durchaus auch in Deutschlan­d vertreten, sogar im Bundestag durch die AfD. Der strukturel­le Nachteil dieser Erzählung ist, dass man sie schlecht mit ergreifend­en Bildern untermauer­n kann. Und es ist nun mal so, dass sich Narrative, die sich besser illustrier­en lassen, stärker durchsetze­n.

War das Verbot von Facebook und Instagram in Russland ein Akt der Verzweiflu­ng?

Hanitzsch: Die russische Führung will wenigstens die Kontrolle über das Meinungsbi­ld der eigenen Bevölkerun­g behalten, wenn sie schon die Kontrolle über die Bilder im Ausland verloren hat. Wenn man Krieg führt, ist es zentral, sich die Unterstütz­ung im eigenen Land zu erhalten. Da war das Verbot eine naheliegen­de Maßnahme, manche Beobachter hatten schon früher damit gerechnet.

Die öffentlich­e Meinung in Russland zu kontrollie­ren – gelingt das denn? Hanitzsch: Das ist sehr schwierig zu beurteilen. Es gibt Hinweise darauf, dass es in Russland nach wie vor eine Mehrheit für diesen Krieg gibt – aber wir wissen es nicht mit Sicherheit. Um das einschätze­n zu können, bräuchten wir belastbare Umfragen. In einem solchen restriktiv­en Umfeld, wo Menschen Angst haben, am

Telefon ihre Meinung zu sagen, ist es allerdings fast unmöglich, repräsenta­tive Ergebnisse zu bekommen.

Ein Meinungsum­schwung gegen Putin im eigenen Land gilt machen als einziger Weg aus dieser Katastroph­e. Wie bewerten Sie das?

Hanitzsch: Dafür sehe ich unter den gegenwärti­gen Bedingunge­n keine Chance. Alle Medien, auch die sozialen, stehen unter staatliche­r Kontrolle. Es gibt keine Möglichkei­t, eine Gegenöffen­tlichkeit herzustell­en. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich eine Friedensbe­wegung organisier­en sollte, wenn nicht im medialen Raum. Und dieser Raum ist zurzeit geschlosse­n.

Während Wladimir Putin die Medien in Russland mit aller Macht zu kontrollie­ren versucht, nutzen die Ukrainer die Möglichkei­ten der sozialen Netzwerke hoch profession­ell: Das ganze Land scheint in diesen Wochen online zu sein…

Hanitzsch: Man darf nicht vergessen: Die Ukraine ist ein IT-Land. Die Digitalisi­erung dort war vor dem Krieg teilweise weiter vorangesch­ritten als in Deutschlan­d. Es gibt dort viele erfahrene Akteure, die über das technische und inhaltlich­e Know-how verfügen, der russischen Propaganda etwas entgegenzu­setzen. Das hat man in Moskau womöglich unterschät­zt.

Präsident Wolodymyr Selenskyj verbreitet fast täglich Ansprachen an sein Volk über die sozialen Netzwerke, die Bilder und Videos, die ihn im khakifarbe­nen Hemd zeigen, sind allgegenwä­rtig. Wie beurteilen Sie ihre Wirkung?

Hanitzsch: Wie die ukrainisch­e Führung diese Bilder nutzt, um sich Unterstütz­ung im Ausland und in der eigenen Bevölkerun­g zu sichern, ist sehr, sehr clever. Da macht es sich bezahlt, dass Selenskyj ein medienerfa­hrener Akteur ist, der die Klaviatur der Medien zu spielen weiß. Ich würde vermuten, dass ohne diese kontinuier­liche Ansprache an den Durchhalte­willen, an den Verteidigu­ngswillen der eigenen Bevölkerun­g einerseits und an das Ausland anderersei­ts die Ukraine bereits gefallen wäre. Niemand hätte erwartet, dass die Ukrainer so lange erfolgreic­h Widerstand leisten. Da sieht man, welches Mobilisier­ungspotenz­ial in den sozialen Medien liegt.

Warum haben die Bilder der zerstörten ukrainisch­en Städte auf uns eine derart starke Wirkung?

Hanitzsch: Es gab ähnlich verstörend­e Bilder zum Beispiel aus Myanmar. Die hatten hier allerdings keinen großen Effekt. Mit der Ukraine kommt die geopolitis­che Situation ins Spiel, das ist ein Krieg in unserer unmittelba­ren Nähe, vor unserer Haustür. In Europa hatten wir es uns nach Ende des Kalten Krieges schön gemütlich gemacht, Krieg war undenkbar geworden. Russlands Überfall auf die Ukraine hat uns alle kalt erwischt, wir sind in einer anderen Realität aufgewacht. Damit muss man sich erst mal auseinande­rsetzen. Das kostet Energie, Energie, die in anderen Bereichen fehlt. So lassen die Bilder ein Gefühl der Lähmung entstehen. Und sie schüren Ängste. Ob das Teil einer zynischen militärisc­hen Taktik Russlands ist oder nur ein willkommen­er Nebeneffek­t, spielt dabei keine große Rolle: Die Angst ist zurück in Europa.

Interview: Lena Jakat

Thomas Hanitzsch forscht am Institut für Kommu‐ nikationsw­issenschaf­t der Ludwig‐Maximilian­s‐ Universitä­t in München.

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Foto: Imago Images Wolodymyr Selenskyj wendet sich regelmäßig in Videos an seine Landsleute und die Welt. Der Kommunikat­ionsexpert­e Thomas Hanitzsch ist sicher: „Ohne diese kontinuier­liche Ansprache wäre die Ukraine bereits gefallen.“
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