Hat Joe Biden zum Sturz von Wladimir Putin aufgerufen?
Europareise In Polen zieht der US-Präsident eine neue Frontlinie zwischen Gut und Böse – und sagt einen Satz, der die Welt in Aufregung versetzt.
Warschau Die Latte liegt hoch, als Joe Biden den Hof des Warschauer Königsschlosses betritt. Eine Rede im Stile von John F. Kennedy und Ronald Reagan werde der US-Präsident halten, hatte das Weiße Haus angekündigt. Zu erwarten ist also mindestens ein zentraler Satz vom Rang eines „Ich bin ein Berliner“oder „Mister Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!“Und auch die Stoßrichtung ist klar: Warschau ist das neue Berlin, lautet die Devise. Frontstadt in einem „Krieg gegen das Reich des Bösen“.
Was einst die Sowjetunion war, ist heute das Russland des Präsidenten Wladimir Putin. Passend zum finsteren Szenario schlagen kurz vor Beginn der Rede mehrere russische Raketen im westukrainischen Lwiw ein, nur 60 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Ein Treibstofflager geht in Flammen auf.
Kein Zweifel: Polen ist Frontstaat in diesem Krieg. Biden greift die infernalischen Bilder rhetorisch auf. „Fürchtet euch nicht“, sagt der gläubige Katholik und zitiert damit den polnischen Papst Johannes Paul II. Der hatte den Satz 1979 seinen Landsleuten zugerufen. Es war ein Kipppunkt im Kalten Krieg. Im Jahr darauf legten die Menschen in Polen ihre Angst ab und forderten die Sowjetdiktatur heraus. Sie folgten dem Papst und dem jungen Solidarnosc-Führer Lech Walesa, so wie die Menschen in der Ukraine heute ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj folgen.
Es sind Giganten der Geschichte, die Biden da als Zeugen benennt. Doch seine Rede kommt nicht recht in Schwung. „Wir müssen in diesem Kampf einen kühlen Kopf bewahren“, mahnt Biden – und tatsächlich kommen kaum Emotionen auf an diesem Abend in Warschau. Das mag auch daran liegen, dass der Präsident nicht vor Zehntausenden spricht wie einst der Papst, Kennedy und Reagan. Kurz vor Schluss fällt dann doch noch ein zentraler Satz, der in Twitter-Geschwindigkeit weltweit für Aufruhr sorgt. „In Gottes Namen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben“, erklärt Biden. Dann winkt er etwas müde ins Publikum, dreht sich um und geht. Doch der Satz bleibt.
Nach vier Tagen Europareise ist der 79-Jährige sichtlich erschöpft. Aber was war das denn nun? Da hat der US-Präsident doch ganz offen zum Regimewechsel in Moskau aufgerufen. Zum Sturz Putins. Das Weiße Haus versucht sich sofort an einem Dementi. Der Präsident habe gar nicht über Putins Macht in Russland gesprochen. Auch US-Außenminister Antony Blinken bekräftigt am Sonntag, die Vereinigten Staaten strebten keinen Machtwechsel in Russland an. Es stimmt, den Namen Putin erwähnt Biden in der Schlusspassage nicht. Aber er sagt: „Ein Diktator, der ein Imperium wiedererrichten will, wird niemals die Liebe eines Volkes zur Freiheit auslöschen. Und dann fällt der Satz: „In Gottes Namen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben.“Nein, da gibt es nichts misszuverstehen. Das wird auch in den Passagen deutlich, in denen Biden sich an die Menschen in Russland wendet. „Dieser Krieg ist eurer nicht würdig“, sagt er und verspricht: „Amerika wird mit euch sein – und mit den mutigen Bürgern der Ukraine, die nichts wollen als Frieden.“Das ist schon eine verblüffende Wendung. Denn faktisch versucht Biden, nicht nur Amerikaner, Ukrainer und andere Europäer, sondern auch die Russen hinter sich zu vereinen. Auf der Seite des Guten, der Freiheit und des Friedens.
Während auf der anderen Seite dieser Mann steht, der weg soll: Wladimir Putin. In Polen legen viele Kommentatoren die Stirn in Falten. Russland auf Putin zu reduzieren, das halten sie für falsch. Aber der US-Präsident hat sich auf diese Marschrichtung festgelegt, die Bundeskanzler Olaf Scholz in die Formel gefasst hatte: „Dies ist Putins Krieg.“Es soll keine neue Ost
West-Konfrontation geben. Das ist die Idee. Ist Putin weg, wird alles gut. Aber die These von dem einen Mann im Kreml, der an all dem Bösen schuld ist, will nicht recht zu dem großen historischen Aufschlag passen. Demokratie gegen Diktatur. Licht gegen Finsternis. Von all dem spricht der US-Präsident in Warschau und erzählt am Rande, wie er sich am Nachmittag mit ukrainischen Flüchtlingskindern getroffen hat. „Ein kleines Mädchen fragte mich: Herr Präsident, werde ich meinen Vater und meinen Bruder wiedersehen?“Biden ist gerührt von der Hingabe, mit der sich die Menschen in Polen um ihre Nächsten aus dem Nachbarland kümmern. Aber folgt man der Präsidentenrede bis zum Schluss, dann sind Leid und Liebe keineswegs die Folge eines neuen Systemkampfes zwischen zwei Weltentwürfen. Dann ist dieser Krieg das Werk eines einzelnen „Verbrechers“.