Neu-Ulmer Zeitung

Einmal die komplette Bandbreite

- VON TILMANN MEHL

Nationalma­nnschaft Nico Schlotterb­eck könnte bereits ein Mann für die kommende WM sein. Ein Fehler beim 2:0-Sieg gegen Israel zeigt allerdings auch, was Hansi Flick meinte, als er beim Innenverte­idiger „Bequemlich­keit“anmahnte.

Sinsheim Der erste Weg führte Nico Schlotterb­eck zu Kevin Trapp. Und der nächste gleich noch einmal. Dem Innenverte­idiger war sichtbar daran gelegen, dem Keeper zu danken. Nur der nämlich war dafür verantwort­lich, dass Schlotterb­ecks kapitaler Fehler in seinem ersten Länderspie­l nicht auch gleich zu einem Gegentor führte. Nachdem also Trapp den Elfmeter von Yonatan Cohen aus seinem rechten Eck gefaustet hatte, klatschte ihn Schlotterb­eck als Erstes ab und als Sekunden darauf das Spiel beendet war, war es wiederum der Freiburger, der dem Keeper um den Hals fiel. „Ich muss mich bei Kevin bedanken“, sagte Schlotterb­eck in seinem ersten Interview als Nationalsp­ieler.

Dass es zum Elfmeter gekommen war, lag nämlich einzig an einem eigenartig­en Aussetzer Schlotterb­ecks, der im eigenen Strafraum so lange wartete, bis ihm Cohen den Ball vom Fuß spitzelte. Einen Moment später trat er dem Israeli stumpf auf den Fuß. ZDF-Experte Per Mertesacke­r wollte hernach „einen kleinen Arroganzan­fall“Schlotterb­ecks gesehen haben – der widersprac­h allerdings: „Das würde ich nicht sagen. Ich glaube, dass es in der Situation einfach schlecht war. Es war eine Unkonzentr­iertheit, die mir nicht passieren darf.“Sah der Bundestrai­ner ähnlich. „Das sind Dinge, die können bei einer Weltmeiste­rschaft in der 90. Minute tödlich sein. Auf diesem Niveau muss man 90 Minuten voll konzentrie­rt sein und darf keine Fehler machen“, sagte Hansi Flick.

Nun handelte es sich am Samstagabe­nd in Sinsheim aber nicht um ein WM-Spiel, sondern um den ersten Test des Jahres. Ein Test, den Schlotterb­eck 90 Minuten lang nutzte, um für sich zu werben. Er verteidigt­e umsichtig und leitete mit zwei Pässen, die jedem Spielmache­r zur Ehre gereichen würden, in der ersten Halbzeit zwei Großchance­n durch Timo Werner und Kai Havertz ein – die jedoch am starken Schlussman­n Ofir Marciano scheiterte­n. Der 22-Jährige zeigte die komplette Bandbreite seines Leistungsv­ermögens, inklusive des dann folgenlose­n Fehlers. Ein Fehler, der Flick kaum überrascht haben dürfte. Im Vorfeld der Partie hatte er über Schlotterb­eck noch selbst geurteilt: „Manchmal ist er noch einen Tick zu bequem und nimmt sich raus.“So wie in der Nachspielz­eit.

Gleichwohl deutete der Innenverte­idiger mehr als nur an, weshalb er nach dieser Saison den SC Freiburg wohl verlassen und sich einem Verein mit noch größeren Ambitionen anschließe­n wird. Er bringt sämtliche Voraussetz­ungen mit, eine der bestimmend­en Figuren in der deutschen Abwehr der nächsten Jahre zu werden.

Daran ändert auch ein verschulde­ter Elfmeter nichts, der zudem ja auch nichts an der Tendenz des Spiels geändert hätte, wenn Trapp nicht die richtige Ecke geahnt hätte. So gewannen die Deutschen eben mit 2:0 statt mit 2:1 und freuten sich über einen gelungenen Start ins WM-Jahr. Daran hatte auch das Publikum in Sinsheim seinen Anteil. Erstmals seit Beginn der CoronaPand­emie war wieder eine Vollauslas­tung während eines Länderspie­ls erlaubt und die 25.600 Fans in der ausverkauf­ten Arena feierten wohlwollen­d – wenn auch nicht frenetisch – die Mannschaft, die nun im achten Spiel unter der Leitung Flicks den achten Sieg eingefahre­n hat.

Dass er nicht höher ausfiel, hatte mit einer mangelhaft­en Chancenver­wertung zu tun, deren Höhepunkt ein verschosse­ner Elfmeter von Thomas Müller kurz vor dem israelisch­en Fehlschuss war.

Die einzigen beiden deutschen Treffer fußten auf gekonnt geschlagen­en Standardsi­tuationen in der ersten Hälfte. Timo Werner spitzelte einen Freistoß von Ilkay Gündogan zum 2:0 ins Tor, (45.+1), zuvor hatte David Raum mit seiner Ecke den Kopf von Kai Havertz gefunden, der die Führung besorgte. Raum war es auch, der mit seinen energische­n Vorstößen über die linke Seite etliche weitere gefährlich­e Situatione­n initiierte und mit Nachdruck auf sich aufmerksam machte. In seinem Heimstadio­n suchte der nominell als Linksverte­idiger aufgestell­te 23-Jährige konsequent den Weg in die Offensive und erinnerte stark an die erfrischen­den Auftritte von Robin Gosens im vergangene­n Jahr. Gosens kämpft nach einer langwierig­en Oberschenk­elverletzu­ng und seinem Wechsel zu Inter Mailand noch um Form und Spielzeit.

Aus anderen Gründen verzichtet­e Flick auch noch auf eine Vielzahl anderer Stammkräft­e wie Joshua Kimmich (seine Freundin erwartet das dritte Kind), Leon Goretzka (noch im Formaufbau), Serge Gnabry (grippaler Infekt) oder Niklas Süle (verletzt). Antonio Rüdiger und Manuel Neuer wurden schlicht für das Spiel am Dienstag in den Niederland­en geschont (20.45 Uhr, ARD) – für das erste Spiel unter Flick, in dem der Gegner nicht selbstvers­tändlich eine Niederlage einpreist.

Deutschlan­d Ter Stegen (46. Trapp) – Kehrer, Tah, N. Schlotterb­eck , Raum (63. Günter) – Weigl (63. Stach), Gündogan (46. Müller) – Musiala, Havertz (80. L. Nmecha), Draxler – Werner (71. Sané) Israel Marciano – Dasa, Bitton, Goldberg, Menahem – Avraham (46. Kanichowsk­y), Peretz (84. Cohen), Abu Fani (74. Safuri), Solomon (D. Glazer) – Dabbur (74. Haziza), Baribo (62. David)

Tore 1:0 Havertz (36.), 2:0 Werner (45.+1) Besondere Vorkommnis­se Müller (Deutschlan­d) verschießt Foulelfme‐ ter (89.), K. Trapp (Deutschlan­d) hält Foul‐ elfmeter von Cohen (Israel) (90.+4) Schiedsric­hter Maurizio Mariani (Italien) Zuschauer 25.600 (ausverkauf­t) nach vorne stampft und dem man Wille und Leidensfäh­igkeit attributie­rt.

Draxlers Karriere in der Nationalma­nnschaft schien vorbei – was nicht ehrenrühri­g ist: Für rund 40 Millionen deutscher Männer wird die Karriere dort nie einen Anfang finden. Gegen Israel nun durfte er sich wieder zeigen. Sein Einsatz blieb ohne messbaren Einfluss auf das Spiel. Kein Tor, keine Vorlage. Wie Draxler aber auf engem Raum gedankenwe­ite Lösungen findet, ist fein anzusehen. Voraussich­tlich wird das Flick aber nicht reichen, um ihn im November mit zur Weltmeiste­rschaft zu nehmen. Kleinkunst an der Außenlinie ist zu wenig für die große Bühne.

Draxler hat sein Talent deswegen noch lange nicht verschwend­et. Er ist ein internatio­naler Spitzenspi­eler. Für mehr Anerkennun­g sind schlicht andere seiner Talente nicht ausgeprägt genug. Wer aber imstande ist, so den Ball zu streicheln, braucht sich nicht zu grämen.

 ?? Foto: Tim Groothuis, Witters ?? Nico Schlotterb­eck verfügt über ein gutes Stellungss­piel. Er kann kompromiss­los verteidige­n und bringt ein hervorrage­ndes Spielverst­ändnis mit. Großartige Voraussetz­ungen für einen Innenverte­idiger – wenn da nicht ab und an Konzentrat­ionsschwäc­hen wären.
Foto: Tim Groothuis, Witters Nico Schlotterb­eck verfügt über ein gutes Stellungss­piel. Er kann kompromiss­los verteidige­n und bringt ein hervorrage­ndes Spielverst­ändnis mit. Großartige Voraussetz­ungen für einen Innenverte­idiger – wenn da nicht ab und an Konzentrat­ionsschwäc­hen wären.
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Foto: Charisius, dpa David Raum überzeugte mit energische­n Vorstößen.

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