Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Nationaltheater Der Ballettabend „Passagen“entwirft eindringliche Bilder gegen den Krieg.
München Verloren steht er in der Dunkelheit der Bühne des Nationaltheaters, dieser Tänzer, gehüllt in einen dunklen Mantel, als würde es ihn frieren, umgeben nur vom Licht eines Scheinwerfers, eine weiße Taube in seiner Hand, die versucht zu fliegen – aber es gelingt ihr nicht. Hoffnung und Verzweiflung, beides spiegelt sich in der Schlussszene des Ballettabends „Passagen“, der am Samstag die Ballettfestwoche eröffnete. In diesen Zeiten werden Ballettvorstellungen, die vielen als rein hedonistisches Vergnügen gelten, hochpolitisch. Es sollte nicht die einzige Geste sein, die sich an diesem Abend in Richtung Ukraine richtete. Doch damit kein falscher Eindruck entsteht: Die dreiteilige Aufführung war auch künstlerisch ein Ereignis – das Publikum jubelte über drei exquisite Choreografien, die durch hervorragende Tänzerinnen und Tänzer geadelt wurden.
Am Beginn standen neoklassische Harmonie und Schönheit mit David Dawsons „Affairs of the Heart“. In Spiralen und Linien ordnet der Engländer die Tänzerinnen und Tänzer an und lässt sie fließend über die Bühne kreiseln. Tanz, das ist für Dawson vor allem eine Folge von geschmeidigen Drehungen in allen erdenklichen Variationen. Angetrieben wird dieses Karussell durch ein Violinkonzert von Marjan Mozetich und ins rechte Licht gesetzt durch faszinierende Farbwechsel in einem nach vorne offenen Kubus.
Wie Dawson kreierte auch Marco Goecke eine Uraufführung für die Eröffnung der Ballettfestwoche. Seine für ihn so typischen ruckartigen, zuckenden Bewegungen setzt der Wuppertaler, der seit einiger Zeit Ballettdirektor in Hannover ist, auch in „Sweet Bones’ Melody“zu einer hochenergetischen, furiosen Bewegungskomposition vor allem der Arme zusammen. Fantastisch! Diese rasanten Bewegungsabläufe wirken wie unter Schwarzlicht und erzeugen ungemein eindrückliche Bilder, die sich nicht in der eingangs beschriebenen Schlussszene erschöpfen. Goecke zeigt Menschen zwischen Aggressivität und Zärtlichkeit, Frauen und Männer, die in unbeholfenen Umarmungen für sich bleiben, die sich einander nähern wollen und doch nicht zusammenkommen können – Menschen, die nicht miteinander umgehen können. Und auch damit weckte Goecke Assoziationen zur aktuellen Lage.
Mancher musste sich aber erst einmal die Augen reiben, denn die hatte zuvor Alexej Ratmansky mit „Bilder einer Ausstellung“zu Mussorgskis berühmter Musik verwöhnt. Ratmanskys Choreografie besticht durch einen leichten, mit Witz durchzogenen Gestus und einem Tanzstil, der durch die hohe russische Ballettschule geprägt ist, aber immer wieder aufgebrochen wird. Die Aufführung in München machte der Russe, in Kiew geboren und einst für das Ukrainische Nationalballett tanzend, zu einer bewegenden Demonstration gegen den Krieg. Die Hintergrundprojektion einer Farbstudie Wassily Kandinskys wandelte sich permanent; zum Schluss entstanden daraus zwei gemalte Balken in Blau und Gelb. Und auch die Ovationen des Publikums nahm der Choreograf eine ukrainische Flagge hochhaltend entgegen. Eine pikante Angelegenheit in diesem Haus, dessen Ballettdirektor Igor Zelensky Mitglied eines Gremiums ist, das Wladimir Putin in künstlerischen Fragen berät.