Wühlen im Schlamm einer wüsten Welt
Landestheater Schwaben Regisseur Gregor Turecˇek warnt mit Goethes „Iphigenie auf Tauris“vor dem Untergang der Zivilisation. Seine „Heldin“ahnt, wie sich Tragödien vermeiden ließen.
Memmingen Bühnenklassiker für uns Heutige aufzubereiten und verdaulich zu machen, gehört zum Theateralltag. Es kommen packende Interpretationen auf die Bühnen, bisweilen banale. In diese Gefahr wollte sich Gregor Turecˇek offenbar nicht begeben. Der 1985 geborene, aus Österreich stammende Regisseur hat Goethes Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“, das er fürs Landestheater Schwaben in Memmingen inszenieren sollte, gar nicht erst zu aktualisieren versucht, sondern gleich einen neuen Text geschaffen. Darin nutzt er das Original als Steinbruch und verschränkt es mit eigenen Gedanken sowie Fundstücken aus Texten von Elisabeth Brofen, Virginie Despentes, Heiner Müller und etlichen anderen.
Diese Iphigenie-Version feierte nun Premiere, vom Publikum mit viel Applaus und Bravos bedacht. Zu Recht, denn der neue Text spiegelt den Sound unserer Zeit in vielen
Facetten – auch wenn manche Wendung ziemlich krass klingt. Diese vielstimmige Turecˇek-GoetheIphigenie funktioniert aber auch dank feiner Schauspielleistungen und einer düsteren Bühne in Endzeitstimmung (Juliette Collas).
Eigentlich böte Goethes Vorlage aus dem Jahr 1779 genug Stoff, um auch im Jahr 2022 zu wirken. Schließlich geht es in seinem Humanitätsdrama um eine Frau, die sich mit Mut und Aufrichtigkeit in einer Männerwelt behauptet. Und um Männer, die nicht Helden spielen müssen, sondern sich Diskussionen zugänglich zeigen und Menschlichkeit walten lassen.
Doch die Frage nach dem Machtverhältnis zwischen Mann und Frau ist bei weitem nicht das einzige und größte Problem. Anderes sorgt längst für existenzielle Bedrohung, und damit ist nicht nur der neuerdings in Europa entflammte Krieg gemeint. Gerade hat uns die Corona-Pandemie zum Verzweifeln gebracht. Und seit etlichen Jahren wissen wir, dass die Menschheit eine Natur- und Klimakatastrophe heraufbeschwört, die sie kaum noch stoppen kann. Genau darüber lässt Turecˇek Iphigenie anfangs monologisieren (mit Sätzen der Schriftstellerin Marica Bodrozic).ˇ Sie tut dies auf einer verwüsteten Erde, wo der Boden aus schwarzer Plastikfolie besteht, der Ozean auf einen Tümpel reduziert ist und das einzige Grün in Gestalt eines Olivenbaums in einem Autoanhänger wächst.
Erst dann schildert die Tochter des Griechenkönigs Agamemnon ihre Einsamkeit auf Insel Tauris, ihr Heimweh, ihre Sehnsucht nach der Familie. Zu allem Übel kommt der linkische König Thoas daher und möchte Iphigenie zur Frau nehmen.
Regina Vogel zeigt eine zweifelnde und bisweilen verzweifelte Frau, die dennoch ihren inneren Kompass nicht verliert. Sie ordnet sich nicht unter, sondern geht volles Risiko, um ihre Wünsche zu realisieren. Das erweicht am Ende Thoas (Klaus Philipp) und reißt ihren Bruder
Orest (David Lau) mit, der sich lebensmüde den Schlamm um den Kopf schmiert. Iphigenie ist das Kraftzentrum in einer ziemlich kaputten Gesellschaft.
Erstaunlich, was Gregor Turecˇek mithilfe von Goethe sowie Autoren und Expertinnen in 85 Minuten alles erzählen kann – von den Tragödien bei der sagenhaften Zivilisationsgeburt im vorantiken Griechenland und den Tragödien der Gegenwart (sogar ein paar Sätze für den Angriffskrieg in der Ukraine hat er auf die Schnelle in seinen Text eingefügt) bis zu den Tragödien der Zukunft inklusive des prognostizierten Zusammenbruchs der Zivilisation. Iphigenie weiß, was zu tun wäre, um diese Tragödien zu vermeiden. „Wir müssen anfangen, an anderen Zukünften zu arbeiten – aber jetzt“, lautet ihr dringlicher Appell.
Nächste Aufführung am 2. April um 20 Uhr, dann wieder im Juni. Karten für „Iphigenie auf Tauris“gibt es unter Telefon 08331/945916.