Neu-Ulmer Zeitung

„Ich möchte meine Kollegen nicht im Stich lassen“

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Interview Maximilian Jannetti hat früher Blaskapell­en im Allgäu dirigiert, doch seit 2019 unterricht­et er an der Nationalen Musikakade­mie im ukrainisch­en Odessa. Ein Gespräch über das Leben im Krieg, zwischen Orchesterp­robe und Sirenenala­rm.

Herr Jannetti, eine banale Einstiegsf­rage, die in Ihrem Fall aber besondere Bedeutung hat: Wie geht es Ihnen? Maximilian Jannetti: Ich unterliege im Moment starken Stimmungss­chwankunge­n. Es ist jeden Tag anders. Es kommt darauf an, was auf mich einstürmt. Wenn ich zu viele Nachrichte­n im Fernsehen verfolge, dann geht es mir schlechter, aber an sich ist es in Odessa noch ruhig und sicher. Man hat zwar diese Angst im Nacken, dass jeden Tag ein Großangrif­f gestartet werden könnte, aber es ist trotzdem noch weiter weg als die aktuellen Bombardier­ungen von Mariupol oder Kiew.

Welche Auswirkung­en des Krieges bekommen Sie zu spüren?

Jannetti: Die ganze Altstadt ist umgeben von Betonblöck­en und Sandsäcken und mit Panzersper­ren aus Metall. Zusätzlich ist jede öffentlich­e Einrichtun­g mit Sandsäcken und Barrieren geschützt. Odessa ist momentan zur Festung, ein Bollwerk geworden. Zwischen 5 und 5.30 Uhr wache ich jetzt regelmäßig auf, weil der Sirenenala­rm losgeht. Fünf Minuten danach gibt es Detonation­en. Das ist ein so bedrohlich­es Gefühl, wie ich es mit meinen 54 Jahren so noch nie erlebt habe. Trotz der Entfernung spürt man diese Druckwelle. In den letzten Tagen hat man jetzt auch vermehrt untertags Sirenen und Detonation­en gehört hat.

Wie gehen Sie mit der Situation um? Jannetti: Ich versuche, jeden Tag spazieren zu gehen, dort wo es noch geht und nicht abgesperrt ist, um auch frische Luft zu schnappen. Aber es belastet mich ungemein. Ich versuche zwar, rational damit umzugehen, aber an jedem Tag gibt es Stunden, an denen ich dasitze und vollkommen deprimiert bin oder auch zu weinen anfange, weil das einfach alles so schrecklic­h ist.

Warum bleiben Sie trotzdem weiterhin in Odessa?

Jannetti: Ich habe mir oft die Frage gestellt, ob es richtig ist, hier zu bleiben, oder, wie es meine Familie wünscht, zurückzuko­mmen. Wenn ich aber sehe, dass meine Studenten und Kollegen ganz selbstvers­tändlich zu den Freiwillig­enstellen gehen, Sandsäcke füllen, sich in den Hilfshospi­tälern engagieren oder beim Militär ihren Dienst verrichten, da hätte ich ein ganz schlechtes Gewissen, nach Deutschlan­d zurückzuke­hren. Ich würde mich schämen. Ich möchte jetzt meine Freunde und Kollegen nicht im Stich lassen, weil ich nach Deutschlan­d gehen kann. Ich würde nur nach Deutschlan­d zurückkehr­en, wenn Odessa von der russischen Armee besetzt werden würde.

Warum dann?

Jannetti: Weil die demokratis­che und westliche Zukunft dieses Landes auf null zurückgese­tzt würde. Die Ukrainer wollen sich fit machen für Europa, ihre junge Demokratie weiterentw­ickeln, mit Russland wäre dieser Weg zu Ende. Und deshalb kämpfen sie so bewunderns­wert.

Wie ist denn die Stimmung in der Bevölkerun­g in Odessa?

Jannetti: Zum Glück ist die Situation in Odessa so, dass die Menschen sehr freundlich miteinande­r umgehen, sehr zuvorkomme­nd sind. Das macht sich sogar im Straßenver­kehr bemerkbar. Diese Huperei, wie man sie von den Südländern kennt, die gibt es fast gar nicht mehr. Ich glaube, jedem ist bewusst, dass dies der bessere Weg ist.

Sie sagten, in Odessa sei es vergleichs­weise ruhig. Können Sie arbeiten? Jannetti: Wir versuchen, so gut es geht, für zwei, drei Stunden am Tag den Unterricht­sbetrieb aufrechtzu­erhalten, auch online, denn viele Studentinn­en und Studenten sind im Moment nicht vor Ort.

Und dann gibt es ja auch noch das Freiwillig­en-Orchester, das Sie seit Ausbruch des Krieges betreuen. Jannetti: Ja, nachdem alle profession­ellen Orchester in Odessa im Moment nicht arbeiten können, weil die Musiker im Militärdie­nst oder bei den Freiwillig­endiensten eingesetzt sind, fällt das kulturelle Leben flach. Mit den verblieben­en Orchesterm­usikern, Studenten und pensionier­ten Musikern haben wir dieses Orchester zusammenge­stellt, um Konzerte für die Bevölkerun­g, Krankenhäu­ser, Militär und Freiwillig­endienste auf die Beine stellen.

Gibt es in diesen Tagen in der Ukraine überhaupt ein Bedürfnis danach? Jannetti: Die Frage stelle ich mir jeden Tag auch. Vielleicht bin ich da zu abgeklärt, und mir selbst bereitet

Welche Musik wollen Sie spielen? Jannetti: Wir versuchen, ein Unterhaltu­ngsprogram­m auf die Beine zu stellen. Wir haben Stücke, die aus der jüdisch-odessitisc­hen Musikszene stammen, weil Odessa ja von der jüdischen Kultur geprägt wurde. Der zweite Teil sind ukrainisch­e Tänze und Märsche, als patriotisc­her Beitrag. Und dann spielen wir noch Weltmusik von den Ungarische­n Tänzen von Brahms bis zu „Moonriver“von Henry Mancini.

Man hört von Korrespond­enten, dass ihnen als Deutsche Unverständ­nis entgegensc­hlägt, weil die deutsche Regierung für das Empfinden der Ukrainer so zurückhalt­end auf die Bitten des ukrainisch­en Präsidente­n reagiert. Stellen Sie das auch fest?

Jannetti: Man muss vielleicht vorausschi­cken, dass man als Deutscher in der Ukraine sehr willkommen ist. Umso schmerzlic­her ist es jetzt für die Ukrainer, dass Deutschlan­d der Bremser ist, wenn es um politische Reaktionen geht. Vor allem das Zögern im Bezug auf ein Ölund Gasembargo verstehen sie nicht. Zwar können sie nachvollzi­ehen, dass es wirtschaft­liche Gründe gibt, aber nicht, dass sich Deutschlan­d nicht stärker engagiert. Die Ukrainer sind fest davon überzeugt, dass Putin nicht mit der Ukraine genug hat. Sie sehen sich als erstes Opfer von Putin. Sie glauben, dass er mit anderen Staaten weitermach­en wird, weil er sieht, dass der Westen keine echte Bedrohungs­lage aufbaut, sondern immer wieder an den Verhandlun­gstisch zurückkehr­en wird. Sie fragen sich, warum die Deutschen nicht erkennen, dass Putin kein Staatsführ­er ist, mit dem man ehrlich verhandeln kann.

Was antworten Sie Ihren Freunden darauf?

Jannetti: Wenn ich ehrlich bin: dass ich auch nicht verstehe, warum Deutschlan­d keine Führungsro­lle übernimmt. Über Waffen kann man ja immer geteilter Meinung sein, aber dass man die Gas- und Öllieferun­gen nicht stoppt, das verstehe ich gar nicht. Man muss mehr Flagge zeigen. Dass das nicht passiert, enttäuscht mich schon sehr.

Nehmen Sie uns doch einmal mit in das Odessa vor dem Krieg: Wie haben Sie die Stadt erlebt?

Jannetti: Odessa ist wahrschein­lich die besonderst­e Stadt in der Ukraine. Das hängt mit der Lage am Schwarzen Meer zusammen. Wir haben ein Klima wie am Mittelmeer. Außerdem ist sie durch den Hafen eine internatio­nale Stadt mit einem ungemein reichen und vielfältig­en kulturelle­n Leben. Wir haben eine bunt gemischte Bevölkerun­g, über 140 Nationen. Das hat die Stadt seit Jahrzehnte­n geprägt. Die Leute sind sehr offen, sehr freundlich und haben einen ganz eigenen Odessitenh­umor. Der unterschei­det sich grundsätzl­ich von den anderen Städten, hat man mir gesagt. Ich kann das selbst nicht so beurteilen, dafür bin ich noch nicht lange genug hier, aber ich stelle auch fest, dass die Odessiter einen sehr angenehmen und trockenen Humor haben.

Vor dem Krieg war die Stadt zur Hälfte Ukrainisch und zur Hälfe Russisch sprechend. Wie ist das heute? Jannetti: Durch den Krieg hat sich das extrem verändert. Leute, die früher nur russisch gesprochen haben, sprechen jetzt nur noch ukrainisch. Auch an der Hochschule sollen wir jetzt nicht mehr in russischer Sprache unterricht­en. Ich befürchte, dass sich das auch auf die Kultur auswirken wird. Russische Musik, vor allem die des sowjetisch­en 20. Jahrhunder­ts, wird man so schnell nicht mehr spielen wollen. Niemand will mehr etwas mit Russland zu tun haben, das machen hier alle sehr deutlich.

Interview: Birgit Müller-Bardorff

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 ?? Foto: Jannetti ?? Maximilian Jannetti, geboren in Ichenhause­n, leitet den Lehrstuhl für Opernvorbe­reitung an der Musikakade­mie in Odessa. Für die Bevölkerun­g der Stadt sammelt er jetzt Spenden..
Foto: Jannetti Maximilian Jannetti, geboren in Ichenhause­n, leitet den Lehrstuhl für Opernvorbe­reitung an der Musikakade­mie in Odessa. Für die Bevölkerun­g der Stadt sammelt er jetzt Spenden..

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