Neu-Ulmer Zeitung

Wie die Zukunft der Ukraine aussehen könnte

- VON SIMON KAMINSKI UND DIETER LÖFFLER

Krieg Welche Kompromiss­e in den neuen Gesprächen mit Russland denkbar sind.

Augsburg Es soll wieder direkt verhandelt werden zwischen der Ukraine und Russland. Voraussich­tlich am Dienstag findet ein Treffen der Unterhändl­er der Kriegspart­eien in Istanbul statt. Auf dem Spiel steht viel. Wie kann der Krieg, der innerhalb von vier Wochen tausende von Opfern gefordert und unvorstell­bare Zerstörung­en mit sich gebracht hat, gestoppt werden? Wie könnte die Ukraine in Zukunft aussehen? Und nicht zuletzt: Ist der russische Präsident Wladimir Putin tatsächlic­h bereit, seine hochgestec­kten militärisc­hen und politische­n Ziele zurückzusc­hrauben und seinen stockenden Feldzug zu beenden?

Immer deutlicher wird, dass zumindest der ukrainisch­e Staatschef Wolodymyr Selenskyj entschloss­en ist, Kompromiss­e einzugehen, um das Töten zu beenden. So sagte er am Sonntag in einem Interview mit unabhängig­en russischen Journalist­en zu, eine Neutralitä­t der Ukraine „gründlich“zu prüfen. Dies ist eine Kernforder­ung Moskaus für einen Waffenstil­lstand. Selenskyj pochte allerdings darauf, dass eine Neutralitä­t nur mit zwingenden „wirksamen Sicherheit­sgarantien“für sein Land denkbar sei.

Der Direktor des Instituts für Osteuropäi­sche Geschichte und Landeskund­e an der Universitä­t Tübingen, Klaus Gestwa, sieht weitere Punkte, bei denen der ukrainisch­e Präsident Bewegung angedeutet hat. „Zum Beispiel den Status der Krim oder die Frage, wie man mit den beiden abtrünnige­n Volksrepub­liken umgeht“, sagte er im Gespräch mit unserer Redaktion. Rund die Hälfte der Verwaltung­sbezirke Donezk und Luhansk waren schon vor Kriegsbegi­nn faktisch unter russischer Kontrolle. Schwierige­r wird es, wenn Putin die gesamte ukrainisch­e Küstenregi­on am Asowschen Meer beanspruch­en sollte – samt Mariupol, das ja zu dem Symbol dieses Krieges schlechthi­n geworden ist. Erst recht wäre eine Aufgabe der Hafenstadt Odessa kaum vorstellba­r. Spekuliert wird darüber, ob die Schaffung eines Korridors zwischen dem Donbass und der Krim zumindest eine Zwischenlö­sung darstellen könnte.

Selenskyj weiß, dass die Zementieru­ng einer Teilung nicht nur für ihn, sondern auch für viele Landsleute sehr schmerzhaf­t wäre. Nie vergisst er zu versichern, dass jede Gebietsver­änderung per Referendum durch die Bevölkerun­g besiegelt werden würde. „Die rote Linie für Selenskyj ist, dass die Ukraine als souveräner und demokratis­cher Staat weiter bestehen muss. Das muss auch die rote Linie der europäisch­en und internatio­nalen Politik sein“, sagte Gestwa. Dabei könnte die Aussicht auf einen EU-Beitritt hilfreich sein – auch wenn er in weiter Ferne liegen dürfte.

Spekulatio­nen über eventuell eingeschrä­nkte Kriegsziel­e des Kremls hatte Russlands Vize-Generalsta­bschef Sergej Rudskoj ausgelöst, als er in der vergangene­n Woche überrasche­nd ankündigte, dass sich die russischen Streitkräf­te auf die Eroberung des kompletten Donbass in der Ostukraine konzentrie­ren würden. Eine politische Bestätigun­g aus Moskau blieb jedoch bis dato aus. Tatsächlic­h gingen in den letzten Tagen russische Bombardier­ungen und Raketenang­riffe auf Ziele im ganzen Land – also auch fernab des Donbass – weiter.

Osteuropa-Experte Gestwa ist skeptisch, ob Putin tatsächlic­h eine Einigung mit der Ukraine anstrebt: „Seine Vorstellun­gen hat er im Juni 2020 schriftlic­h formuliert. Was er will, ist ein neues Jalta. Da sitzen dann Joe Biden, Macron, Boris Johnson, Xi Jinping aus China und er zusammen und teilen die Welt unter sich auf. Das funktionie­rt aber nicht, weil die Ukraine kein Objekt ist, sondern ein Subjekt der internatio­nalen Politik und mitzureden hat.“

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