Der Krieg darf kein Wahlkampf-Thema werden
Leitartikel Die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine prägen die politischen Debatten. Die Parteien müssen der Versuchung widerstehen, daraus Kapital zu schlagen.
Es sei kein guter Tag für die kleinen Parteien gewesen, hieß es in den Analysen nach der Landtagswahl im Saarland. Und: Der Ukraine-Krieg habe die Wählerinnen und Wähler aus einem Sicherheitsgefühl heraus eher zu den großen Parteien getrieben. Der Befund ist ebenso nachvollziehbar wie bemerkenswert. Denn das war nicht immer so: Der Jugoslawien-Krieg vor 30 Jahren etwa rüttelte die Menschen bei weitem nicht so auf wie der aktuelle Konflikt, während die Flüchtlingsfrage infolge des Syrien-Krieges den Bundestagswahlskampf 2017 dominierte und die Volksparteien massiv Stimmen kostete.
Ein wichtiges Definitionsmerkmal von Volksparteien ist, dass sie alle Bevölkerungsschichten ansprechen. Die Schwierigkeit besteht darin, dabei die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bekommen und eine Politik zu machen, bei der sich möglichst alle wohlfühlen. Das gilt in Friedenszeiten – und bei einem Krieg in der Nachbarschaft ganz besonders. Sicherheit auf dem Weg zur Schule, Sicherheit in der U-Bahn, Schutz vor Terrorangriffen – die Sicherheit spielt gerade bei Wahlen immer wieder eine Rolle.
Zur Landtagswahl im Saarland ist es vor allem der SPD und ihrem Kanzler Olaf Scholz offenbar gut gelungen, ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Dort haben zwar einerseits Personen eine Rolle gespielt. Die Strahlkraft der SPD-Spitzenkandidatin Anke Rehlinger war viel größer als die des CDU-Bewerbers Tobias Hans. Mit regionalen Themen fielen beide jedoch nicht sonderlich auf, das gilt auch für die anderen Parteien (die wiederum so zerstritten waren, dass Personen bei ihnen gar keine Rolle spielten). An diese Stelle trat der Krieg in der Ukraine und das damit verbundene Handeln der Ampel-Regierung in Berlin. Ihm kam eine große, wenn nicht sogar die wahlentscheidende
Rolle zu. Dass es FDP und Grüne nicht in den Landtag geschafft haben, spricht nicht unbedingt gegen diese Annahme. Neben der SPD waren sie die beiden einzigen Parteien, die Stimmenzuwächse verzeichnen konnten.
Die konkrete Bedrohung der persönlichen und wirtschaftlichen Sicherheit durch den Ukraine-Krieg ist eine neue Rechengröße in den
Wahlkampfstrategien der Parteien geworden. Drei Landtagswahlen stehen in diesem Jahr noch an, drei weitere im nächsten Jahr, 2024 ist Europawahl. Selbst wenn der Krieg bis dahin längst beendet sein sollte, wird er nachwirken. Das zeigt unter anderem der Blick in die USA.
Der 11. September 2001 traf das Sicherheitsgefühl der US-Bevölkerung tief ins Mark, die selbstbewusste Nation nahm, unter anderem mit dem Patriot Act, massive, von der Politik verordnete Einschränkungen der Bürgerrechte hin. Sie gelten heute noch.
Die Versuchung ist da, im Lichte der Saarland-Wahl aus dem Krieg politischen Profit zu schlagen. Das gilt für die Regierungsparteien, indem sie versuchen, ihr Krisenmanagement herauszustreichen. Und für die Oppositionsparteien, indem sie genau dieses Management kritisieren. Diese Gefahr besteht und sie wird größer, je mehr die Folgen des Krieges in Deutschland spürbar werden. Der Anfang ist bereits gemacht: Die im Angesicht des Kriegsausbruchs von fast allen Bundesparteien beschworene gemeinsame Verantwortung ist aufgebrochen, wie sich unter anderem an der hitzigen Debatte über die Aufrüstung der Bundeswehr oder den Raketenschild zeigt. Im Saarland forderte Tobias Hans als Reaktion auf Putins Angriffskrieg in einem Wahlvideo eine Spritpreisbremse. Das alles jedoch darf nicht sein. Die Parteien stehen in der Verantwortung, den Ukraine-Krieg nicht für Wahlkampfzwecke zu instrumentalisieren.
Die beschworene Einigkeit beginnt schon zu bröckeln.