Neu-Ulmer Zeitung

Die Atomkraft strahlt wieder

- VON SUSANNE EBNER, BIRGIT HOLZER UND KATRIN PRIBYL

Versorgung Frankreich setzt erstmals seit Jahrzehnte­n auf den Bau neuer Kernkraftw­erke, allen Protesten zum Trotz. Die EU will Atomenergi­e auf Druck von Paris als klimafreun­dlich einstufen. Und in Großbritan­nien wird schon an den Reaktoren der Zukunft getüftelt.

Flamanvill­e/Leicester/Brüssel Von all den Ölbildern, die sich in Didier Angers Arbeitszim­mer stapeln, sticht eines heraus. Es erinnert an Edvard Munchs Werk „Der Schrei“. Der Kopf der panisch schreiende­n Person ist ein Nuklearsym­bol, gelb mit schwarzen Punkten. In den Regalen liegen Plakate, die für Anti-Atomkraft-Demos werben, außerdem Broschüren und Bücher, auch Angers eigenes Werk „Der EPR – Ein laufendes Desaster“. Darin beschreibt der 83-jährige frühere Lehrer und heutige Hobby-Maler, wie gefährlich und kostspieli­g der Europäisch­e Druckwasse­rreaktor, kurz EPR, sei, der sechs Kilometer von seinem Haus entfernt in Flamanvill­e in der Normandie gebaut wird. Ein Reaktor der dritten Generation, von denen Exemplare bereits in Finnland und China stehen. Für Anger ist es ein rein politische­s Projekt, das mit Fehlinform­ation, ja „Gehirnwäsc­he“der Menschen einhergehe.

Die Regierunge­n Frankreich­s und die Atomlobby arbeiteten seit Jahrzehnte­n Hand in Hand, so Didier Anger. „Atomenergi­e soll günstig sein? Nicht, wenn Sie ehrlich rechnen! Sie garantiert Unabhängig­keit? Wo, bitte schön, haben wir denn eigene Uran-Minen?“Anger war einst Mitbegründ­er der französisc­hen Grünen, er saß jahrelang als Vize-Präsident der Energie-Kommission im EU-Parlament und wurde zum Gesicht der Anti-KernkraftB­ewegung der Region. Bei dem Thema redet er sich schnell in Rage. Ursprüngli­ch sollte der EPR schon im Jahr 2012 ans Netz gehen und 3,4 Milliarden Euro kosten. Aufgrund etlicher Pannen ist nun die Rede von mindestens 19 Milliarden Euro und einer Inbetriebn­ahme 2023. Gebaut wird er neben zwei Reaktoren, die seit 1986 an der idyllische­n Küste im Cotentin, einer Halbinsel am Ärmelkanal, stehen. Nur von ein paar erhöhten Stellen des daran vorbeiführ­enden Wanderwegs aus lassen sich die haubenförm­igen Gebilde erkennen. Vor den Steinhäuse­rn blühen Hortensien. „Es ist wunderschö­n hier, darum sind wir trotz der Reaktoren geblieben“, sagt Didier Anger. Seine Frau Paulette nickt lächelnd. „Und um Widerstand zu leisten. Seit 40 Jahren.“

Frankreich hat den höchsten prozentual­en Anteil nuklear erzeugten Stroms weltweit. Bei seinem Amtsantrit­t 2017 übernahm Präsident Emmanuel Macron zunächst das Ziel seines Vorgängers François Hollande, diesen Anteil von mehr als 70 auf 50 Prozent zu senken und bis 2035 zwölf Reaktoren stillzuleg­en. Doch er setzte dies nur für die beiden ältesten des Atomkraftw­erks Fessenheim direkt an der deutschen Grenze um. Inzwischen verspricht Macron eine „Wiedergebu­rt der Kernenergi­e“. Alle Laufzeiten der 58 Reaktoren sollen, wenn irgendwie möglich, verlängert werden. Im Fall seiner Wiederwahl im April will er sechs neue „EPR 2“bauen lassen, mit einer Option auf acht weitere. „Es ist eine Entscheidu­ng für das Klima und die Industrie, aber auch für die Kaufkraft, unsere Unabhängig­keit und Freiheit“, so Macron.

Das Land ist vergleichs­weise wenig auf russische Energieimp­orte angewiesen. Beim Gas machten sie bislang 17 Prozent aus. Dafür gibt es dieser Tage viel Kritik an der hohen Abhängigke­it Deutschlan­ds, das infolge des Atomaussti­egs zudem auf Kohlekraft­werke setzte. Zwar ist es der Bundesrepu­blik durch Verhandlun­gen mit anderen Lieferländ­ern gelungen, schon ein Stück autarker von russischer Energie zu werden, doch immer noch sind die Abhängigke­iten immens: Beim Gas machen die Lieferunge­n aus Russland derzeit nach Angaben des Wirtschaft­sministeri­ums noch 40 Prozent aus, beim Öl sind es auf absehbare Zeit 25. Die Einfuhr von Kohle soll sich im April von 50 auf 25 Prozent halbieren.

Mit Atomstrom Made in Germany ist Ende des Jahres Schluss, die drei verbleiben­den Meiler werden abgeschalt­et. Zwar hatte angesichts des Krieges die Bundesregi­erung geprüft, ob die Reaktoren zunächst weiterlauf­en sollen. Wie eine Umfrage unserer Redaktion in Zusammenar­beit mit dem Meinungsfo­rschungsin­stitut Civey zeigte, will eine deutliche Mehrheit der Deutschen länger an der Kernenergi­e festhalten. Am Ende entschied sich die Ampel trotzdem dagegen. Die Vorbereitu­ngen zur Abschaltun­g der letzten drei Kraftwerke seien schon zu weit fortgeschr­itten, um sie in Betrieb zu halten.

Auf europäisch­er Ebene hat sich Macron durchgeset­zt. Denn auf Druck von Paris hin will die EUKommissi­on Investitio­nen in Atomkraftw­erke unter bestimmten Bedingunge­n als klimafreun­dlich klassifizi­eren – trotz massiver Kritik aus einigen Mitgliedst­aaten, etwa aus Österreich und Luxemburg, wie auch von Bürgerinne­n und Bürgern, Umweltschü­tzern, Wissenscha­ftlerinnen und Europaabge­ordneten. Neben Erdgas, für das Deutschlan­d als Übergangsl­ösung plädierte, soll Kernenergi­e in die sogenannte Taxonomie aufgenomme­n werden, einen Kriterienk­atalog für nachhaltig­e Investitio­nen, die dann entspreche­nd politisch gefördert und finanziell unterstütz­t werden. Der Rechtstext biete „eine echte Lösung“beim Übergang zur Klimaneutr­alität, die die EU für das Jahr 2050 anstrebt, hieß es vonseiten der Brüsseler Behörde, als sie den Entwurf Anfang Februar vorstellte. Bei den beiden Energieque­llen handele es sich um Brückentec­hnologien.

Mit der Taxonomie, einer Art grüner Bibel, die Transparen­z schaffen und Orientieru­ng im Finanz-Dschungel geben soll, will die Staatengem­einschaft auch Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r dazu bewegen, Geld in klimafreun­dliche Technologi­en und Unternehme­n zu stecken. Denn es bedarf gewaltiger Summen, um die ehrgeizige­n Klimaschut­z-Ziele zu erreichen und die gesamte Wirtschaft der EU auf „grün“zu stellen. Laut Kommission sind jährliche Investitio­nen von 350 Milliarden Euro nötig.

Setzt sich die Behörde in den nächsten Monaten mit ihrem Rechtstext durch, gelten Investitio­nen in neue Atomkraftw­erke in Europa künftig als nachhaltig, wenn sie den neuesten Standards entspreche­n und ein konkreter Plan für die Lagerung radioaktiv­er Abfälle bis 2050 präsentier­t wird. Vorneweg Frankreich hatte das gefordert. Zudem sollen Investitio­nen in neue Gaskraftwe­rke bis 2030 als nachhaltig klassifizi­ert werden, sofern sie unter anderem schmutzige­re Kraftwerke ersetzen und bis 2035 komplett mit klimafreun­dlicheren Gasen wie Wasserstof­f betrieben werden.

Doch auch in Frankreich gab es stets Widerstand, wenn er auch weniger hörbar ist als in Deutschlan­d. Schon 1980 beteiligte­n sich 20.000 Menschen an einer Anti-KernkraftD­emo in Flamanvill­e, das gut 20 Kilometer südlich von der Wiederaufb­ereitungsa­nlage La Hague liegt. 25.000 Gegner kamen 2006 ins nahe gelegene Cherbourg. „Das war eine Menge – schließlic­h sind wir hier an einem der letzten Zipfel der Welt“, sagt Anger, der Grünen-Mitbegründ­er.

Flamanvill­e selbst ist ein herausgepu­tztes 1800-Einwohner-Städtchen, das wie die gesamte Region von den Jobs in der Nuklearind­ustrie profitiert. Diese spült Geld in die öffentlich­en Kassen. Kurz vor Weihnachte­n verteilte die Gemeinde an jeden der 743 Haushalte einen Scheck mit 200 Euro Guthaben, um es in einem der rund 20 Läden in Flamanvill­e auszugeben. Pro Kind gab es weitere 400 Euro. „Das ist subtil, man will die Leute bei Laune halten“, sagt Pauline Anger und zuckt mit den Schultern. Ihre Familie habe nichts erhalten, weil sie außerhalb lebe. So wie 1974 eine Bürgerbefr­agung über die Errichtung eines Kernkraftw­erks die umliegende­n Gemeinden nicht mit einbezog. „Als wären sie nicht betroffen im Fall eines Unfalls!“

Auch in Großbritan­nien stehen die Zeichen auf Atomkraft, unter anderem, um teure Gasimporte zu reduzieren. Premiermin­ister Boris Johnson zufolge will die Regierung künftig 25 Prozent des Stroms nuklear erzeugen, aktuell sind es 16 Prozent. In dieser Woche soll eine neue Energiestr­ategie vorgestell­t werden, bei der moderne Small Modular Reactors (kleine modulare Reaktoren), kurz SMR, eine wesentlich­e Rolle spielen dürften. In der historisch­en Stadt Leicester in Mittelengl­and, rund eine Zugstunde von London entfernt, fördert der Staat ein Projekt, um die Vorteile dieser Mini-Reaktoren herauszust­ellen. Hier arbeiten Ingenieure, Wissenscha­ftlerinnen und Unternehme­n daran, die „U-Battery” auf den Markt zu bringen – einen kleinen Reaktor, der Strom und Wärme für Industrien an abgelegene­n Standorten bereitstel­len soll. Bis es zum Bau kommt, wird in Leicester ein maßgetreue­s Modell präsentier­t. Erstellt hat es das Unternehme­n Cavendish Nuclear, um die Idee „anschaulic­h und lebendig werden zu lassen“, erklärt der technische Leiter Lee Whitworth.

Das Replikat, das unter anderem im 3-D-Drucker entstand, befindet sich in einer Werkshalle etwas außerhalb der Stadt und besticht durch seine Größe – es ist so hoch wie ein sechsstöck­iges Gebäude. Denn sichtbar sind auch jene Teile der „U-Battery“, die in der Endversion unter der Erde liegen würden. Auf dem Weg nach oben berichtet Whitworth mit Blick auf die grauen Nachbildun­gen von Rohren, Wärmetausc­hern und Kühlsystem­en von den Vorzügen dieses ReaktorTyp­s: Er sei in seinem Aufbau sehr flexibel, leicht zu warten, vergleichs­weise günstig und lasse sich in weniger als zwei Jahren bauen. Außerdem könne die Energie in Form von Hitze oder Strom für unterschie­dliche Industrien verwendet werden. Bei dem Advanced Modular Reactor (fortschrit­tlicher modularer Reaktor), kurz AMR, handelt es sich um eine neue Form von

Laufzeiten von 58 Reaktoren sollen verlängert werden

Neue Anlagen sollen klein und flexibel sein

Kraftwerke­n, die als deutlich sicherer als frühere Modelle gelten, heißt es von den Hersteller­n. Unter Expertinne­n und Experten sind kleine bis mittlere Reaktoren hingegen umstritten. Kritikern zufolge gelten sie als weniger rentabel und sind aufgrund ihrer höheren Anzahl auch mit mehr Risiken verbunden.

Doch auch der französisc­he Präsident Macron setzt auf SMR und versprach, eine Milliarde Euro in deren Bau zu investiere­n. Sein Argument, das Land müsse seine unabhängig­e Energiever­sorgung sicherstel­len, wird angesichts des Ukraine-Krieges mehr gehört denn je. Gegnerinne­n und Gegner wie das Rentner-Ehepaar Anger wissen, dass sie gegen Windmühlen kämpfen – zumindest in Frankreich. Umso wichtiger sei die internatio­nale Vernetzung, sagt Didier Anger. 2018 erhielten die beiden in Salzburg die Auszeichnu­ng „NuclearFre­e Future Award“(„Preis für eine nuklearfre­ie Zukunft“). Stolz zeigt er den Porzellant­eller, den sie damals erhielten. Darauf abgebildet ist das deutsche Kernkraftw­erk Biblis. Es wurde 2011 abgeschalt­et.

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Foto: Karaba, dpa Das französisc­he Atomkraftw­erk Cattenom nahe der deutschen Grenze: 1979 gebaut, soll es rund 50 Kilometer entfernt von Trier noch so lange wie möglich am Netz bleiben.
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Foto: U‐Battery So sieht das Modell des kleinen Reaktors in Leicester aus.
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Foto: B. Holzer Dieser Porzellant­eller hat für Didier An‐ ger einen hohen Wert.

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