Die Atomkraft strahlt wieder
Versorgung Frankreich setzt erstmals seit Jahrzehnten auf den Bau neuer Kernkraftwerke, allen Protesten zum Trotz. Die EU will Atomenergie auf Druck von Paris als klimafreundlich einstufen. Und in Großbritannien wird schon an den Reaktoren der Zukunft getüftelt.
Flamanville/Leicester/Brüssel Von all den Ölbildern, die sich in Didier Angers Arbeitszimmer stapeln, sticht eines heraus. Es erinnert an Edvard Munchs Werk „Der Schrei“. Der Kopf der panisch schreienden Person ist ein Nuklearsymbol, gelb mit schwarzen Punkten. In den Regalen liegen Plakate, die für Anti-Atomkraft-Demos werben, außerdem Broschüren und Bücher, auch Angers eigenes Werk „Der EPR – Ein laufendes Desaster“. Darin beschreibt der 83-jährige frühere Lehrer und heutige Hobby-Maler, wie gefährlich und kostspielig der Europäische Druckwasserreaktor, kurz EPR, sei, der sechs Kilometer von seinem Haus entfernt in Flamanville in der Normandie gebaut wird. Ein Reaktor der dritten Generation, von denen Exemplare bereits in Finnland und China stehen. Für Anger ist es ein rein politisches Projekt, das mit Fehlinformation, ja „Gehirnwäsche“der Menschen einhergehe.
Die Regierungen Frankreichs und die Atomlobby arbeiteten seit Jahrzehnten Hand in Hand, so Didier Anger. „Atomenergie soll günstig sein? Nicht, wenn Sie ehrlich rechnen! Sie garantiert Unabhängigkeit? Wo, bitte schön, haben wir denn eigene Uran-Minen?“Anger war einst Mitbegründer der französischen Grünen, er saß jahrelang als Vize-Präsident der Energie-Kommission im EU-Parlament und wurde zum Gesicht der Anti-KernkraftBewegung der Region. Bei dem Thema redet er sich schnell in Rage. Ursprünglich sollte der EPR schon im Jahr 2012 ans Netz gehen und 3,4 Milliarden Euro kosten. Aufgrund etlicher Pannen ist nun die Rede von mindestens 19 Milliarden Euro und einer Inbetriebnahme 2023. Gebaut wird er neben zwei Reaktoren, die seit 1986 an der idyllischen Küste im Cotentin, einer Halbinsel am Ärmelkanal, stehen. Nur von ein paar erhöhten Stellen des daran vorbeiführenden Wanderwegs aus lassen sich die haubenförmigen Gebilde erkennen. Vor den Steinhäusern blühen Hortensien. „Es ist wunderschön hier, darum sind wir trotz der Reaktoren geblieben“, sagt Didier Anger. Seine Frau Paulette nickt lächelnd. „Und um Widerstand zu leisten. Seit 40 Jahren.“
Frankreich hat den höchsten prozentualen Anteil nuklear erzeugten Stroms weltweit. Bei seinem Amtsantritt 2017 übernahm Präsident Emmanuel Macron zunächst das Ziel seines Vorgängers François Hollande, diesen Anteil von mehr als 70 auf 50 Prozent zu senken und bis 2035 zwölf Reaktoren stillzulegen. Doch er setzte dies nur für die beiden ältesten des Atomkraftwerks Fessenheim direkt an der deutschen Grenze um. Inzwischen verspricht Macron eine „Wiedergeburt der Kernenergie“. Alle Laufzeiten der 58 Reaktoren sollen, wenn irgendwie möglich, verlängert werden. Im Fall seiner Wiederwahl im April will er sechs neue „EPR 2“bauen lassen, mit einer Option auf acht weitere. „Es ist eine Entscheidung für das Klima und die Industrie, aber auch für die Kaufkraft, unsere Unabhängigkeit und Freiheit“, so Macron.
Das Land ist vergleichsweise wenig auf russische Energieimporte angewiesen. Beim Gas machten sie bislang 17 Prozent aus. Dafür gibt es dieser Tage viel Kritik an der hohen Abhängigkeit Deutschlands, das infolge des Atomausstiegs zudem auf Kohlekraftwerke setzte. Zwar ist es der Bundesrepublik durch Verhandlungen mit anderen Lieferländern gelungen, schon ein Stück autarker von russischer Energie zu werden, doch immer noch sind die Abhängigkeiten immens: Beim Gas machen die Lieferungen aus Russland derzeit nach Angaben des Wirtschaftsministeriums noch 40 Prozent aus, beim Öl sind es auf absehbare Zeit 25. Die Einfuhr von Kohle soll sich im April von 50 auf 25 Prozent halbieren.
Mit Atomstrom Made in Germany ist Ende des Jahres Schluss, die drei verbleibenden Meiler werden abgeschaltet. Zwar hatte angesichts des Krieges die Bundesregierung geprüft, ob die Reaktoren zunächst weiterlaufen sollen. Wie eine Umfrage unserer Redaktion in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zeigte, will eine deutliche Mehrheit der Deutschen länger an der Kernenergie festhalten. Am Ende entschied sich die Ampel trotzdem dagegen. Die Vorbereitungen zur Abschaltung der letzten drei Kraftwerke seien schon zu weit fortgeschritten, um sie in Betrieb zu halten.
Auf europäischer Ebene hat sich Macron durchgesetzt. Denn auf Druck von Paris hin will die EUKommission Investitionen in Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich klassifizieren – trotz massiver Kritik aus einigen Mitgliedstaaten, etwa aus Österreich und Luxemburg, wie auch von Bürgerinnen und Bürgern, Umweltschützern, Wissenschaftlerinnen und Europaabgeordneten. Neben Erdgas, für das Deutschland als Übergangslösung plädierte, soll Kernenergie in die sogenannte Taxonomie aufgenommen werden, einen Kriterienkatalog für nachhaltige Investitionen, die dann entsprechend politisch gefördert und finanziell unterstützt werden. Der Rechtstext biete „eine echte Lösung“beim Übergang zur Klimaneutralität, die die EU für das Jahr 2050 anstrebt, hieß es vonseiten der Brüsseler Behörde, als sie den Entwurf Anfang Februar vorstellte. Bei den beiden Energiequellen handele es sich um Brückentechnologien.
Mit der Taxonomie, einer Art grüner Bibel, die Transparenz schaffen und Orientierung im Finanz-Dschungel geben soll, will die Staatengemeinschaft auch Verbraucherinnen und Verbraucher dazu bewegen, Geld in klimafreundliche Technologien und Unternehmen zu stecken. Denn es bedarf gewaltiger Summen, um die ehrgeizigen Klimaschutz-Ziele zu erreichen und die gesamte Wirtschaft der EU auf „grün“zu stellen. Laut Kommission sind jährliche Investitionen von 350 Milliarden Euro nötig.
Setzt sich die Behörde in den nächsten Monaten mit ihrem Rechtstext durch, gelten Investitionen in neue Atomkraftwerke in Europa künftig als nachhaltig, wenn sie den neuesten Standards entsprechen und ein konkreter Plan für die Lagerung radioaktiver Abfälle bis 2050 präsentiert wird. Vorneweg Frankreich hatte das gefordert. Zudem sollen Investitionen in neue Gaskraftwerke bis 2030 als nachhaltig klassifiziert werden, sofern sie unter anderem schmutzigere Kraftwerke ersetzen und bis 2035 komplett mit klimafreundlicheren Gasen wie Wasserstoff betrieben werden.
Doch auch in Frankreich gab es stets Widerstand, wenn er auch weniger hörbar ist als in Deutschland. Schon 1980 beteiligten sich 20.000 Menschen an einer Anti-KernkraftDemo in Flamanville, das gut 20 Kilometer südlich von der Wiederaufbereitungsanlage La Hague liegt. 25.000 Gegner kamen 2006 ins nahe gelegene Cherbourg. „Das war eine Menge – schließlich sind wir hier an einem der letzten Zipfel der Welt“, sagt Anger, der Grünen-Mitbegründer.
Flamanville selbst ist ein herausgeputztes 1800-Einwohner-Städtchen, das wie die gesamte Region von den Jobs in der Nuklearindustrie profitiert. Diese spült Geld in die öffentlichen Kassen. Kurz vor Weihnachten verteilte die Gemeinde an jeden der 743 Haushalte einen Scheck mit 200 Euro Guthaben, um es in einem der rund 20 Läden in Flamanville auszugeben. Pro Kind gab es weitere 400 Euro. „Das ist subtil, man will die Leute bei Laune halten“, sagt Pauline Anger und zuckt mit den Schultern. Ihre Familie habe nichts erhalten, weil sie außerhalb lebe. So wie 1974 eine Bürgerbefragung über die Errichtung eines Kernkraftwerks die umliegenden Gemeinden nicht mit einbezog. „Als wären sie nicht betroffen im Fall eines Unfalls!“
Auch in Großbritannien stehen die Zeichen auf Atomkraft, unter anderem, um teure Gasimporte zu reduzieren. Premierminister Boris Johnson zufolge will die Regierung künftig 25 Prozent des Stroms nuklear erzeugen, aktuell sind es 16 Prozent. In dieser Woche soll eine neue Energiestrategie vorgestellt werden, bei der moderne Small Modular Reactors (kleine modulare Reaktoren), kurz SMR, eine wesentliche Rolle spielen dürften. In der historischen Stadt Leicester in Mittelengland, rund eine Zugstunde von London entfernt, fördert der Staat ein Projekt, um die Vorteile dieser Mini-Reaktoren herauszustellen. Hier arbeiten Ingenieure, Wissenschaftlerinnen und Unternehmen daran, die „U-Battery” auf den Markt zu bringen – einen kleinen Reaktor, der Strom und Wärme für Industrien an abgelegenen Standorten bereitstellen soll. Bis es zum Bau kommt, wird in Leicester ein maßgetreues Modell präsentiert. Erstellt hat es das Unternehmen Cavendish Nuclear, um die Idee „anschaulich und lebendig werden zu lassen“, erklärt der technische Leiter Lee Whitworth.
Das Replikat, das unter anderem im 3-D-Drucker entstand, befindet sich in einer Werkshalle etwas außerhalb der Stadt und besticht durch seine Größe – es ist so hoch wie ein sechsstöckiges Gebäude. Denn sichtbar sind auch jene Teile der „U-Battery“, die in der Endversion unter der Erde liegen würden. Auf dem Weg nach oben berichtet Whitworth mit Blick auf die grauen Nachbildungen von Rohren, Wärmetauschern und Kühlsystemen von den Vorzügen dieses ReaktorTyps: Er sei in seinem Aufbau sehr flexibel, leicht zu warten, vergleichsweise günstig und lasse sich in weniger als zwei Jahren bauen. Außerdem könne die Energie in Form von Hitze oder Strom für unterschiedliche Industrien verwendet werden. Bei dem Advanced Modular Reactor (fortschrittlicher modularer Reaktor), kurz AMR, handelt es sich um eine neue Form von
Laufzeiten von 58 Reaktoren sollen verlängert werden
Neue Anlagen sollen klein und flexibel sein
Kraftwerken, die als deutlich sicherer als frühere Modelle gelten, heißt es von den Herstellern. Unter Expertinnen und Experten sind kleine bis mittlere Reaktoren hingegen umstritten. Kritikern zufolge gelten sie als weniger rentabel und sind aufgrund ihrer höheren Anzahl auch mit mehr Risiken verbunden.
Doch auch der französische Präsident Macron setzt auf SMR und versprach, eine Milliarde Euro in deren Bau zu investieren. Sein Argument, das Land müsse seine unabhängige Energieversorgung sicherstellen, wird angesichts des Ukraine-Krieges mehr gehört denn je. Gegnerinnen und Gegner wie das Rentner-Ehepaar Anger wissen, dass sie gegen Windmühlen kämpfen – zumindest in Frankreich. Umso wichtiger sei die internationale Vernetzung, sagt Didier Anger. 2018 erhielten die beiden in Salzburg die Auszeichnung „NuclearFree Future Award“(„Preis für eine nuklearfreie Zukunft“). Stolz zeigt er den Porzellanteller, den sie damals erhielten. Darauf abgebildet ist das deutsche Kernkraftwerk Biblis. Es wurde 2011 abgeschaltet.