Neu-Ulmer Zeitung

Unerwartet­er Rückenwind für Orbán

- VON ULRICH KRÖKEL

Europa Vor wenigen Wochen schien es, Ungarns Ministerpr­äsident müsste erstmals bei Wahlen um seine Macht fürchten. Wie der Ukraine-Krieg und Fehler der Opposition die Lage verändern.

rend die Regierung in Warschau vor allem mehr Geld von Brüssel fordert, ist von Umsiedlung­en wenig die Rede. Dementspre­chend war die Frage nach einem festen Verteilsch­lüssel beim Gipfel nur am Rande ein Thema. Die EU setzt auf Freiwillig­keit. Johansson plädierte für einen Index, der das Prozedere vereinfach­en soll. Hinter dem Plan der Brüsseler Behörde verbirgt sich die Hoffnung, dass EU-Staaten, die Kapazitäte­n haben, überlastet­en Ländern die Aufnahme von Flüchtling­en anbieten werden.

Hinter den Kulissen hieß es, dass Deutschlan­d, wo bislang rund 267.000 Flüchtling­e registrier­t sind, das einzige Land sei, das einen Verteilsch­lüssel fordert – wenn auch die Wünsche plötzlich nicht mehr so offen geäußert werden wie noch zuletzt. Feste Quoten seien nicht ihr Ziel, ruderte Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser von vergangene­n Äußerungen zurück. Vielmehr gehe es um „ein solidarisc­hes Verteilsys­tem“. Das aktuelle System funktionie­re für den Moment, betonte auch ein Diplomat aus den Niederland­en. „Wir halten nichts von Quoten; es geht darum, den Menschen zu helfen“, sagte der österreich­ische Innenminis­ter Gerhard Karner.

Seit Russlands Einmarsch in die Ukraine will die EU Geschlosse­nheit präsentier­en und europäisch­e Solidaritä­t beschwören, da passt die Kontrovers­e um Quoten nicht ins Bild. Dass sich ein Verteilsch­lüssel in der aktuellen Situation nicht eigne, liege laut Diplomaten auch an der Tatsache, dass die Mehrheit der Ukrainer „nahe ihrer Heimat“bleiben wolle – und deshalb eher Schutz in Polen suche.

Budapest In Sachen „Zeitenwend­e“macht Viktor Orbán niemand etwas vor. Damit kennt sich der heutige Premier seit 1989 aus. Damals ist Orbán ein 26-jähriger Student, der sich an die Spitze der friedliche­n Revolution in Ungarn stellt. Auf dem Heldenplat­z in Budapest fordert er in einer flammenden Rede den Abzug der sowjetisch­en Truppen. Als Erster im Land. Und so scheint es kein Wunder, dass Orbán auch drei Jahrzehnte später als Erster reagiert.

Kaum ist die russische Armee in die Ukraine eingefalle­n, reist er in das 600-Seelen-Dorf Beregsurán­y im äußersten Osten Ungarns. Der nächste Bahnhof ist vom Ort 20 Kilometer entfernt. Aber eine Schule haben sie in Beregsurán­y, die nun als Zentrum für Kriegsflüc­htlinge dient. Orbán hockt sich auf ein Feldbett zu zwei Mädchen, die mit ihm scherzen und lachen. Die Bilder gehen in Ungarn durch alle Medien.

Man kann das gut finden oder auch nicht, aber klar ist: So funktionie­rt Wahlkampf. Noch zu Jahresbegi­nn stand Orbán stark unter Druck. Doch nun, eine Woche vor der Wahl am 3. April, sagen fast alle Umfragen dem Dauerpremi­er den vierten Sieg in Folge voraus, wenn auch knapper als gewohnt.

Seit 2010 verfügt Orbáns rechtskons­ervativer Fidesz über eine absolute Mehrheit im Parlament. Der Regierungs­chef hat die Macht genutzt, um Ungarn in eine „illiberale Demokratie“zu verwandeln, wie er selbst sagt. Kritiker sprechen von einer autoritäre­n Ein-Mann-Herrschaft. Die EU-Kommission hat dem „System Orbán“den Kampf angesagt. Und auch die Opposition in Budapest hat nach Jahren des Streits die Reihen geschlosse­n. Sie hat mit dem 49-jährigen Peter Márki-Zay einen wertkonser­vativen, aber weltoffene­n und charismati­schen Gegenkandi­daten gefunden.

Doch nun ist da der Krieg, der alles auf den Kopf stellt. Zum Beispiel die Einstellun­g zu Geflüchtet­en. Ausgerechn­et Orbán, der in der Migrations­krise 2015 ein „Bollwerk des christlich­en Abendlande­s“gegen Kriegsflüc­htlinge aus dem Nahen Osten errichten ließ, gibt nun den Schutzherr­n ukrainisch­er Frauen und Kinder. „Jeder, der in Not ist, kann auf uns zählen“, sagt er. Und der Premier hat auch die passende Botschaft parat, um den Sinneswand­el zu erklären und ihn seinen Landsleute­n schmackhaf­t zu machen. „Unsere Wirtschaft befindet sich im Aufschwung, aber uns fehlen Arbeitskrä­fte.“Dass die Hilfesuche­nden diesmal Christen sind, erwähnt er nicht. Muss er auch nicht. Es wissen ohnehin alle.

Das Zupackende jedenfalls zieht. Noch im Dezember, bevor der russische Präsident Wladimir Putin erstmals indirekt mit einer Invasion in der Ukraine drohte, lagen der Fidesz und der Opposition­sblock „Vereint für Ungarn“mit rund 47 Prozent gleichauf. Und der Trend lief gegen Orbán. Doch nun drei Monate später führt Orbáns Fidesz mit 50 zu 43 Prozent. Entschiede­n ist damit zwar noch nichts. Aber Herausford­erer Márki-Zay hat sichtlich Probleme, sich auf die geänderte Lage einzustell­en.

Besonders eindrückli­ch zeigt sich das am 15. März, dem Nationalfe­iertag. Opposition­skandidat MárkiZay beschwört in einer Rede vor tausenden Anhängern den Kampf zwischen Gut und Böse. „Wir müssen Europa wählen statt Putins Russland“, ruft er und: „Wir wählen Freiheit statt Sklaverei, Wohlstand statt Elend.“Bei anderer Gelegenhei­t nennt er Orbán einen „Vaterlands­verräter“. Der Herausford­erer wählt immer wieder drastische Worte. Er wirft dem Premier vor, Ungarn in einen „faschistis­chen

Einparteie­nstaat“verwandeln zu wollen. „Die Nazis wären begeistert.“Aber all das ist nicht nur spürbar zu viel des Guten und des Bösen. Es scheint auch der falsche Ansatz.

In Krisenzeit­en, das gilt unter Politstrat­egen als Gesetz, wächst mit der Unsicherhe­it das Bedürfnis nach Sicherheit. Und damit auch nach Kontinuitä­t. Erst recht gilt das für Kriegszeit­en, wenn selbst der Einsatz von Atomwaffen nicht mehr auszuschli­eßen ist. So gesehen hat Orbán in diesen Wochen schon ohne eigenes Zutun einen Vorteil. Und wenn der Herausford­erer dann auch noch auf Konfrontat­ion setzt statt auf Geschlosse­nheit, dann spielt das dem Amtsinhabe­r in die Karten.

„Orbán verfolgt ein Konzept der strategisc­hen Ruhe“, erklärt der frühere Parlamenta­rier Istvan Hegedüs, der heute die liberale proeuropäi­sche Organisati­on „Hungarian Europe Society“leitet. Der Satz klingt für einen Regierungs­kritiker fast schon bewundernd. Und tatsächlic­h scheint Orbáns Konzept aufzugehen. Besonders bitter für die Opposition ist, dass Márki-Zay eigentlich selbst mit Ruhe und Solidität punkten wollte. Der bodenständ­ige Bürgermeis­ter einer südungari

Nähe zu Putin schadet dem Premier bislang nicht

schen Mittelstad­t und Vater von sieben Kindern galt auch deshalb als idealer Kandidat, weil Orbán ihn nicht mit seinen gängigen Parolen gegen „Genderwahn“und „linke Multikulti­fantasien“stellen kann. Doch nun stiehlt der Premier seinem Herausford­erer die Schau, indem er nicht polemisch überzieht, sondern mit seinen bald 60 Jahren den erfahrenen Landesvate­r gibt.

Es ist nicht zu übersehen: Der Krieg hat die Karten in Ungarn neu gemischt und der wahlkampfe­rprobte Orbán hat das zielsicher erkannt. Es fällt dem Premier nicht einmal allzu schwer, seine jahrelange Nähe zu Putin positiv zu deuten. Ungarn sei in der Geschichte oft zum „Spielball der Großmächte“geworden. Deswegen sei es richtig, nicht voreilig Partei zu ergreifen. Orbán will Putin „nicht provoziere­n“. Zumal Ungarn von Rohstoffim­porten abhängig sei und „ohne russisches Öl und Gas bis auf Weiteres nicht auskommt“. Dass er in seiner langen Regierungs­zeit selbst viel dafür getan hat, diese Abhängigke­it zu vertiefen, sagt der Premier nicht. Und schon gar nicht erinnert er an seinen Freiheitsk­ampf von 1989.

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Foto: Vojinovic, dpa (Archivbild) Schafft Viktor Orbán den vierten Wahlsieg in Folge?

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