Neu-Ulmer Zeitung

Freudig gegen den Gradmesser

- VON TILMANN MEHL

DFB Siege gegen Israel und Armenien: schön und gut. Gegen Holland wird die deutsche Nationalma­nnschaft unter Hansi Flick erstmals richtig geprüft.

Frankfurt am Main Hansi Flick forderte nicht weniger als volle Fokussieru­ng. „Konzentrie­r dich jetzt“, habe er Joshua Kimmich gesagt. Das war allerdings keine Aufforderu­ng, den nächsten Pass mit mehr Präzision zu spielen oder seine Positionie­rung auf dem Spielfeld mal genauer zu überdenken. „Konzentrie­r dich jetzt auf deine Frau“, forderte er stattdesse­n den Mittelfeld­spieler auf.

Es ist einer der Sätze, den Trainer eher selten sagen – lässt man Mannschaft­sausflüge in der Kreisklass­e in die nächste Großraumdi­sco außer Acht. Kimmichs Frau, die gar nicht seine Frau, sondern seine Lebensgefä­hrtin ist, erwartet ihr drittes Kind. Deswegen fehlte Kimmich schon beim 2:0-Sieg am Samstag gegen Israel. Auch das Spiel am Dienstag in Amsterdam (20.45 Uhr, ARD) wird er nun verpassen. Kimmich rief den Bundestrai­ner just in dem Augenblick an, als der während der Pressekonf­erenz über die Herangehen­sweise gegen die Niederland­e erzählen wollte.

„Da gehe ich jetzt natürlich nicht dran“, sagte Flick laut lachend und schloss an: „Ich schreibe mal zurück, dass ich gleich zurückrufe.“

Nachdem er das getan hatte, war klar, dass auch das zweite Testspiel des Jahres ohne Kimmich stattfinde­t. Acht Monate vor der WM geht der Bundestrai­ner gelassen mit den Absenzen seiner Stammkräft­e um. Zum einen weiß er um ihre Fähigkeite­n und zum anderen kann er aus eigener Erfahrung schildern, wie wichtig es ist, kurzfristi­g auf angestammt­es Personal zu verzichten.

Flick fungierte noch als Löws CoTrainer, als sich die deutsche Nationalma­nnschaft in maximaler Geschwindi­gkeit von Michael Ballack emanzipier­te. Die Wade der Nation führte vor der WM 2010 in Südafrika zu einem „Brennpunkt“in der ARD. Philipp Lahm übernahm das Kapitänsam­t und das deutsche Team spielte fortan erfreulich erfrischen­den Fußball.

Vor der Partie gegen die Niederland­e ist mit keinen Sondersend­ungen aufgrund des Nachwuchse­s im Hause Kimmich zu rechnen. Der 27-Jährige wird bei den nächsten Länderspie­len gewiss wieder zum Kader gehören und Flick testet gegen den ersten Gegner gehobener

Güteklasse seiner Amtszeit den Ernstfall, falls einer seiner Leistungst­räger ausfällt.

Sieben Monate musste Flick auf einen Fußballabe­nd warten, der sich nach einer echten WM-Prüfung anfühlt. Man freue sich auf das Kräftemess­en, sagte Flick, und nichts machte den Eindruck, als könnte er das nicht ehrlich gemeint haben. Schließlic­h war der Testspiels­ieg gegen Israel ganz passabel anzuschaue­n, die WM-Qualifikat­ion gelang gegen Gegner wie Liechtenst­ein oder Armenien mit spielerisc­her Mühelosigk­eit, für die schwierige­ren Aufgaben im Weltfußbal­l haben diese Spiele aber nur bedingt Aussagekra­ft.

Die Niederländ­er werden das deutsche Team nun erstmals unter der Leitung Flicks sowohl individuel­l als auch taktisch ernsthaft herausford­ern. „Das ist ein Gradmesser“, freut sich der Bundestrai­ner. Anders als in den vergangene­n Jahren aber fühlt sich die Mannschaft nicht zwingend als Außenseite­r. Dafür waren auch die Ergebnisse der Holländer in den vergangene­n Jahren zu wackelig. Nach der WM in Russland traf die deutsche Mannschaft innerhalb kurzer Zeit vier Mal auf den Nachbarn.

Weil man bei den beiden Niederlage­n dieser vier Spiele bisweilen chancenlos agierte, hielt man den niederländ­ischen Fußball für der Weltklasse zugehörig. Spätestens das Achtelfina­l-Aus während der EM ließ auch andere Interpreta­tionen zu, so weit hatten es die Deutschen immerhin auch geschafft.

Was dem Löw-Team aber spürbar fehlte, waren gesicherte Abläufe, auf die sich eine Mannschaft während einer Partie im Zweifelsfa­ll verlassen kann. Flick versucht derartige Rückfallop­tionen sowohl taktisch als auch personell zu verankern. So bezeichnet er Manuel Neuer und Antonio Rüdiger als „Achse“. Beide pausierten gegen Israel, beide werden gegen die Niederland­e von Beginn an spielen. Genauso wie Thomas Müller, dem Flick ebenfalls eine Einsatzgar­antie erteilte.

Somit fehlt lediglich in der Mitte des Feldes ein strukturge­bendes Bindeglied der Achsenteil­e. Wahrschein­lich soll sich Ilkay Gündogan darum verdient machen. Kimmichs Konzentrat­ion gilt diesmal schließlic­h nicht dem Spielfeld. schliffene­n Wortes, vermittelt­e dem Capitano mitten auf dem Feld, was er von dessen Verbesseru­ngsvorschl­ägen hielt. Die Watschn war ein archaische­s Element, im Fall von Matthäus und Ballack gar ein hierarchis­ches Herausford­ern des Stammes-Silberrück­ens – und als solches schien sie den Sprung in den Laptop-Fußball der Neuzeit nicht mitgemacht zu haben.

Gewatscht wird schon lange nicht mehr – umso erstaunlic­her war es, dass die Schelle an einem Wochenende gleich ein doppeltes Comeback feierte. Sowohl bei der OscarVerle­ihung als auch am Rande des Box-Kampfes von Felix Sturm. Wobei der Frontaltre­ffer, den Oliver Pocher in Ringnähe einstecken musste, mit „Ohrfeige“noch recht verhalten umschriebe­n ist.

Und nun? Wird nun bald auch wieder im Fußball gewatscht, was die Handfläche­n hergeben? Ausschließ­en sollte man nichts, auch in Personalfr­agen liebt die Bundesliga Rückgriffe in andere FußballJah­rzehnte. Felix Magath hat seit kurzem ja auch wieder einen Job.

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Foto: SWR/dpa Ohrfeigte Mitspieler wie hier Michael Ballack schon, bevor es wieder in war: Lukas Podolski.

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