„Pilgern ist Beten mit dem ganzen Körper“
Touristen und Touristinnen haben es gern bequem und sind auf der Suche nach Erholung, Ablenkung und Vergnügen im Hier und Jetzt. Pilgerinnen und Pilger üben dagegen Verzicht, sind auf historischen Spuren unterwegs und interessiert an Ritualen und Erlösung. So bringt es der Religionswissenschaftler Michael Stausberg in seinem Buch „Religion im modernen Tourismus“auf den Punkt und schränkt gleich wieder ein, dass es viele Überschneidungen zwischen diesen beiden Gruppen gebe.
Das zeigt sich auch auf der Pilgermesse, die kürzlich in der Hamburger St.-Jacobi-Kirche stattfand – eine bundesweit einmalige Veranstaltung, auf der sich nicht nur Pilgerwege aus dem In- und Ausland vorstellen.
„Seit Corona haben wir mehr Anfragen von Pilgern. Dabei fällt auf, dass die Menschen nicht wie vor der Pandemie eher alleine, sondern mit mehreren unterwegs sind“, sagt Melanie Krilleke vom Harzer Tourismusverband. Sie präsentierte auf der Pilgermesse den Harzer Klosterwanderweg. Dabei handelt es sich um eine 94 Kilometer lange Strecke von Goslar nach Quedlinburg entlang von zahlreichen Klöstern und Kirchen, die zur Einkehr einladen.
Parallel zum Bestseller des Komikers Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg“aus dem Jahre 2006 wurde im Harz dieser Weg entwickelt. „Unser Pauschalangebot mit sechs Etappen mit im Schnitt 15 Kilometern täglich, bei dem wir das Gepäck transportieren, ist sehr gefragt“, sagt Krilleke. Es beinhaltet die komfortable Übernachtung in historischen Klöstern, die heute als Hotels oder Tagungsstätten genutzt werden. Einfache Pilgerunterkünfte sucht man dagegen auf der Route vergeblich.
Unterwegs hat man vor Sehenswürdigkeiten 19 besondere Holzbänke zum Verweilen aufgestellt, deren Rückenlehnen an Engelsflügel erinnern. Krilleke: „Wir haben viele Gäste aus Großstädten, die auf diesem Weg zur Ruhe kommen wollen. Da sind sie bei uns richtig, es kann passieren, dass man den ganzen Tag unterwegs niemanden trifft.“
Schlichte Unterbringung mit einem besonderen Flair wird dagegen in Thüringen entlang des Rennsteigs geboten. In Neustadt, Tambach-Dietkirchen und Spechtsbrunn haben die dortigen evangelischen Kirchengemeinden mitten in ihren alten Gotteshäusern je ein Doppelbett aufgestellt. In einem Vorraum gibt es Toilette und Dusche, im Pfarrhaus kann man sich Mahlzeiten zubereiten.
Horst Brettel ist einer der ehrenamtlichen Gästebetreuer in der Michaeliskirche Neustadt. Nach seiner Erfahrung haben viele Wanderer und Wanderinnen, die bei ihm Station machen, mit Religion nichts am Hut, sondern fühlen sich eher durch das für sie exotische Ambiente angezogen. Am nächsten Morgen zeigten sie sich oft beeindruckt: „Dieser Raum macht was mit einem. Viele denken dann neu über Kirche und
Spiritualität nach“, hat Horst Brettel in den Gesprächen festgestellt.
Der Jakobsweg ist eine historische Route, die Christen schon vor Jahrhunderten zum spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela nutzten. Die Via Baltica als Teil des Jakobsweges führt von Usedom über Greifswald, Rostock, Wismar, Lübeck, Stade und Zeven bis Bremen. In Lübeck können Pilger und Pilgerinnen für zehn Euro in einer einfachen Herberge neben der evangelischen St.-Jakobi-Kirche übernachten. Sie gehören meist zur Generation der über 50-Jährigen und sind vor allem alleine oder zu zweit unterwegs. „Die Zahl der Pilger, die bei uns einen Stempel in ihren Pilgerpass bekommen, hat in den letzten Jahren immer weiter zugenommen“, hat auch Kathrin Jedeck, Pilgerpastorin des Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg, festgestellt. Sie weiß, dass nur die wenigsten die Zeit und die Kraft haben, ohne Unterbrechung vom hohen Norden bis nach Spanien zu gehen. Größer sind da schon die Erfolgsaussichten für pilgernde Fahrradfahrer, von denen etliche ebenfalls bei Jedeck Station machen.
Was bringt Menschen heute dazu, sich auf Pilgerwege zu begeben und dafür auch etliche Strapazen in Kauf zu nehmen? „Viele sind in einer Übergangsphase, nach dem Verlust des Partners, nach einer Trennung oder sie orientieren sich beruflich neu. Sie suchen ihre Wurzeln und fragen nach dem Sinn ihres Lebens. Religion ist dabei für sie wichtig“, sagt Jedeck.
Martin Luther hatte einst gefragt, ob in Santiago de Compostela wirklich der Apostel Jakobus oder nicht nur ein toter Hund begraben liege und das Pilgern als Bußtour und Teil des Ablasshandels abgelehnt. „Heute pilgert kaum noch einer, um sich von seinen Sünden zu befreien. Luthers Kritik hat sich überholt“, sagt Jedeck.
Pastor Bernd Lohse, der die Pilgermesse organisiert hat, betont: „Pilgern ist beten mit dem ganzen Körper, wie eine lange Meditation. Ich kenne viele, die ihre Reise für das wichtigste Erlebnis in ihrem Leben halten. Man kann ein tiefes Glücksgefühl empfinden.“
Es ist noch nicht lange her, dass die im Mittelalter verbreiteten Pilgerreisen wieder an Zuspruch gewonnen haben. Der Jakobsweg zum Apostelgrab in Santiago de Compostela wurde 1993 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Die Infrastruktur auf dem Weg wurde verbessert – alleine in Deutschland gibt es heute 30 gut ausgeschilderte Jakobswege mit dem Muschelsignet in Richtung Süden, zu denen auch der Augsburger Jakobsweg von Oettingen über Donauwörth, Augsburg und Kempten nach Lindau gehört.
Die Zahl der pilgernden Besucher und Besucherinnen nach Santiago de Compostela hat sich von 1989 bis 2008 um das Neunzehnfache gesteigert. 2019 sind dort rund 350.000 Pilger angekommen, so viel wie nie zuvor. Nach den Spaniern stammt die größte Pilgergruppe aus Deutschland.
Das Bayerische Pilgerbüro als einer der größten Spezialanbieter organisiert Reisen zu Wallfahrtsorten, zu den klassischen Zielen gehören neben Santiago de Compostela das französische Lourdes und Israel auf den Spuren Jesu. Meist müssen die Kunden nicht lange Strecken gehen. Ihnen wird etwas für Seele und Leib geboten – da gibt es beispielsweise die viertägige Vollpension-Flugreise „Lourdes für Ehejubilare“mit der Teilnahme an besonderen Gottesdiensten und Prozessionen und der Aufforderung „Lassen Sie sich spirituell und kulinarisch verwöhnen“.
Wolfgang Löbnitz wandelt nicht auf historischen Spuren und bei ihm geht es auch nicht um das Erreichen eines heiligen Ortes. Er wandert mit politischer Botschaft. Der 69-Jährige bezeichnet sich als Klimapilger – im vergangenen Jahr ist er vom polnischen Zielona Góra bis nach Glasgow gelaufen, wo die UN-Klimakonferenz stattfand. Begleitet wurde Löbnitz auf dem 1649 Kilometer langen Ökumenischen Pilgerweg für Klimagerechtigkeit von insgesamt mehr als 30.000 Menschen, die Teilstrecken gegangen sind.
Auf den 77 Stationen auf dem Weg nach Glasgow kamen sie im August und September auch durch Brandenburg, Sachsen, SachsenAnhalt, Thüringen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Dort informierten sie auf Marktplätzen, in Schulen oder in Kirchengemeinden über den Klimawandel und warben für mehr Anstrengungen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs. Auf der UN-Klimakonferenz übergaben die Klimapilgerinnen und -pilger ihre Forderungen an die politisch Verantwortlichen. „Die Gespräche unterwegs sind am wichtigsten, um auf unser Anliegen aufmerksam zu machen: den
Schutz der Schöpfung“, sagt Löbnitz.
2022 und 2023 verzichtet man aufs Klimapilgern zu den UN-Klimakonferenzen nach Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Als Ersatz sind dafür eher kurze Touren in diesem Mai (Augsburg– Stuttgart) und August (Stuttgart– Karlsruhe) vorgesehen. Für 2024 sollte es dagegen wieder eine lange Strecke sein. Geplant als Konferenzort ist eigentlich die derzeit vom Krieg betroffene Stadt Odessa in der Ukraine. Zum jetzigen Zeitpunkt ist natürlich vollkommen offen, ob die Klimapilgerinnen und Klimapilgerer dorthin wie geplant marschieren können.
Für alle, die mit dem Pilgern beginnen wollen, hat der erfahrene Wanderer Wolfgang Löbnitz einen Tipp: „Wanderschuhe gut einlaufen, das Packen und Tragen des Rucksacks üben und so wenig wie möglich mitnehmen.“Erfahrene Läuferinnen und Läufer empfehlen maximal zehn Kilo als Gepäck. Die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände im Rucksack von Löbnitz: Wasser, Isomatte, Schlafsack und Gelassenheit.
Am Wegesrand Bänke mit Engelsflügeln