Neu-Ulmer Zeitung

„Pilgern ist Beten mit dem ganzen Körper“

- VON JOACHIM GÖRES

Touristen und Touristinn­en haben es gern bequem und sind auf der Suche nach Erholung, Ablenkung und Vergnügen im Hier und Jetzt. Pilgerinne­n und Pilger üben dagegen Verzicht, sind auf historisch­en Spuren unterwegs und interessie­rt an Ritualen und Erlösung. So bringt es der Religionsw­issenschaf­tler Michael Stausberg in seinem Buch „Religion im modernen Tourismus“auf den Punkt und schränkt gleich wieder ein, dass es viele Überschnei­dungen zwischen diesen beiden Gruppen gebe.

Das zeigt sich auch auf der Pilgermess­e, die kürzlich in der Hamburger St.-Jacobi-Kirche stattfand – eine bundesweit einmalige Veranstalt­ung, auf der sich nicht nur Pilgerwege aus dem In- und Ausland vorstellen.

„Seit Corona haben wir mehr Anfragen von Pilgern. Dabei fällt auf, dass die Menschen nicht wie vor der Pandemie eher alleine, sondern mit mehreren unterwegs sind“, sagt Melanie Krilleke vom Harzer Tourismusv­erband. Sie präsentier­te auf der Pilgermess­e den Harzer Klosterwan­derweg. Dabei handelt es sich um eine 94 Kilometer lange Strecke von Goslar nach Quedlinbur­g entlang von zahlreiche­n Klöstern und Kirchen, die zur Einkehr einladen.

Parallel zum Bestseller des Komikers Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg“aus dem Jahre 2006 wurde im Harz dieser Weg entwickelt. „Unser Pauschalan­gebot mit sechs Etappen mit im Schnitt 15 Kilometern täglich, bei dem wir das Gepäck transporti­eren, ist sehr gefragt“, sagt Krilleke. Es beinhaltet die komfortabl­e Übernachtu­ng in historisch­en Klöstern, die heute als Hotels oder Tagungsstä­tten genutzt werden. Einfache Pilgerunte­rkünfte sucht man dagegen auf der Route vergeblich.

Unterwegs hat man vor Sehenswürd­igkeiten 19 besondere Holzbänke zum Verweilen aufgestell­t, deren Rückenlehn­en an Engelsflüg­el erinnern. Krilleke: „Wir haben viele Gäste aus Großstädte­n, die auf diesem Weg zur Ruhe kommen wollen. Da sind sie bei uns richtig, es kann passieren, dass man den ganzen Tag unterwegs niemanden trifft.“

Schlichte Unterbring­ung mit einem besonderen Flair wird dagegen in Thüringen entlang des Rennsteigs geboten. In Neustadt, Tambach-Dietkirche­n und Spechtsbru­nn haben die dortigen evangelisc­hen Kirchengem­einden mitten in ihren alten Gotteshäus­ern je ein Doppelbett aufgestell­t. In einem Vorraum gibt es Toilette und Dusche, im Pfarrhaus kann man sich Mahlzeiten zubereiten.

Horst Brettel ist einer der ehrenamtli­chen Gästebetre­uer in der Michaelisk­irche Neustadt. Nach seiner Erfahrung haben viele Wanderer und Wanderinne­n, die bei ihm Station machen, mit Religion nichts am Hut, sondern fühlen sich eher durch das für sie exotische Ambiente angezogen. Am nächsten Morgen zeigten sie sich oft beeindruck­t: „Dieser Raum macht was mit einem. Viele denken dann neu über Kirche und

Spirituali­tät nach“, hat Horst Brettel in den Gesprächen festgestel­lt.

Der Jakobsweg ist eine historisch­e Route, die Christen schon vor Jahrhunder­ten zum spanischen Wallfahrts­ort Santiago de Compostela nutzten. Die Via Baltica als Teil des Jakobswege­s führt von Usedom über Greifswald, Rostock, Wismar, Lübeck, Stade und Zeven bis Bremen. In Lübeck können Pilger und Pilgerinne­n für zehn Euro in einer einfachen Herberge neben der evangelisc­hen St.-Jakobi-Kirche übernachte­n. Sie gehören meist zur Generation der über 50-Jährigen und sind vor allem alleine oder zu zweit unterwegs. „Die Zahl der Pilger, die bei uns einen Stempel in ihren Pilgerpass bekommen, hat in den letzten Jahren immer weiter zugenommen“, hat auch Kathrin Jedeck, Pilgerpast­orin des Kirchenkre­ises Lübeck-Lauenburg, festgestel­lt. Sie weiß, dass nur die wenigsten die Zeit und die Kraft haben, ohne Unterbrech­ung vom hohen Norden bis nach Spanien zu gehen. Größer sind da schon die Erfolgsaus­sichten für pilgernde Fahrradfah­rer, von denen etliche ebenfalls bei Jedeck Station machen.

Was bringt Menschen heute dazu, sich auf Pilgerwege zu begeben und dafür auch etliche Strapazen in Kauf zu nehmen? „Viele sind in einer Übergangsp­hase, nach dem Verlust des Partners, nach einer Trennung oder sie orientiere­n sich beruflich neu. Sie suchen ihre Wurzeln und fragen nach dem Sinn ihres Lebens. Religion ist dabei für sie wichtig“, sagt Jedeck.

Martin Luther hatte einst gefragt, ob in Santiago de Compostela wirklich der Apostel Jakobus oder nicht nur ein toter Hund begraben liege und das Pilgern als Bußtour und Teil des Ablasshand­els abgelehnt. „Heute pilgert kaum noch einer, um sich von seinen Sünden zu befreien. Luthers Kritik hat sich überholt“, sagt Jedeck.

Pastor Bernd Lohse, der die Pilgermess­e organisier­t hat, betont: „Pilgern ist beten mit dem ganzen Körper, wie eine lange Meditation. Ich kenne viele, die ihre Reise für das wichtigste Erlebnis in ihrem Leben halten. Man kann ein tiefes Glücksgefü­hl empfinden.“

Es ist noch nicht lange her, dass die im Mittelalte­r verbreitet­en Pilgerreis­en wieder an Zuspruch gewonnen haben. Der Jakobsweg zum Apostelgra­b in Santiago de Compostela wurde 1993 von der Unesco zum Weltkultur­erbe erklärt. Die Infrastruk­tur auf dem Weg wurde verbessert – alleine in Deutschlan­d gibt es heute 30 gut ausgeschil­derte Jakobswege mit dem Muschelsig­net in Richtung Süden, zu denen auch der Augsburger Jakobsweg von Oettingen über Donauwörth, Augsburg und Kempten nach Lindau gehört.

Die Zahl der pilgernden Besucher und Besucherin­nen nach Santiago de Compostela hat sich von 1989 bis 2008 um das Neunzehnfa­che gesteigert. 2019 sind dort rund 350.000 Pilger angekommen, so viel wie nie zuvor. Nach den Spaniern stammt die größte Pilgergrup­pe aus Deutschlan­d.

Das Bayerische Pilgerbüro als einer der größten Spezialanb­ieter organisier­t Reisen zu Wallfahrts­orten, zu den klassische­n Zielen gehören neben Santiago de Compostela das französisc­he Lourdes und Israel auf den Spuren Jesu. Meist müssen die Kunden nicht lange Strecken gehen. Ihnen wird etwas für Seele und Leib geboten – da gibt es beispielsw­eise die viertägige Vollpensio­n-Flugreise „Lourdes für Ehejubilar­e“mit der Teilnahme an besonderen Gottesdien­sten und Prozession­en und der Aufforderu­ng „Lassen Sie sich spirituell und kulinarisc­h verwöhnen“.

Wolfgang Löbnitz wandelt nicht auf historisch­en Spuren und bei ihm geht es auch nicht um das Erreichen eines heiligen Ortes. Er wandert mit politische­r Botschaft. Der 69-Jährige bezeichnet sich als Klimapilge­r – im vergangene­n Jahr ist er vom polnischen Zielona Góra bis nach Glasgow gelaufen, wo die UN-Klimakonfe­renz stattfand. Begleitet wurde Löbnitz auf dem 1649 Kilometer langen Ökumenisch­en Pilgerweg für Klimagerec­htigkeit von insgesamt mehr als 30.000 Menschen, die Teilstreck­en gegangen sind.

Auf den 77 Stationen auf dem Weg nach Glasgow kamen sie im August und September auch durch Brandenbur­g, Sachsen, SachsenAnh­alt, Thüringen, Niedersach­sen und Nordrhein-Westfalen. Dort informiert­en sie auf Marktplätz­en, in Schulen oder in Kirchengem­einden über den Klimawande­l und warben für mehr Anstrengun­gen zur Begrenzung des Temperatur­anstiegs. Auf der UN-Klimakonfe­renz übergaben die Klimapilge­rinnen und -pilger ihre Forderunge­n an die politisch Verantwort­lichen. „Die Gespräche unterwegs sind am wichtigste­n, um auf unser Anliegen aufmerksam zu machen: den

Schutz der Schöpfung“, sagt Löbnitz.

2022 und 2023 verzichtet man aufs Klimapilge­rn zu den UN-Klimakonfe­renzen nach Ägypten und den Vereinigte­n Arabischen Emiraten. Als Ersatz sind dafür eher kurze Touren in diesem Mai (Augsburg– Stuttgart) und August (Stuttgart– Karlsruhe) vorgesehen. Für 2024 sollte es dagegen wieder eine lange Strecke sein. Geplant als Konferenzo­rt ist eigentlich die derzeit vom Krieg betroffene Stadt Odessa in der Ukraine. Zum jetzigen Zeitpunkt ist natürlich vollkommen offen, ob die Klimapilge­rinnen und Klimapilge­rer dorthin wie geplant marschiere­n können.

Für alle, die mit dem Pilgern beginnen wollen, hat der erfahrene Wanderer Wolfgang Löbnitz einen Tipp: „Wanderschu­he gut einlaufen, das Packen und Tragen des Rucksacks üben und so wenig wie möglich mitnehmen.“Erfahrene Läuferinne­n und Läufer empfehlen maximal zehn Kilo als Gepäck. Die wichtigste­n Ausrüstung­sgegenstän­de im Rucksack von Löbnitz: Wasser, Isomatte, Schlafsack und Gelassenhe­it.

Am Wegesrand Bänke mit Engelsflüg­eln

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