Neu-Ulmer Zeitung

Eine Frage der Schuld

- VON JULIUS MÜLLER‐MEININGEN

Nazi‐Verbrechen Die Bundesrepu­blik klagt vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f gegen italienisc­he NS-Entschädig­ungsforder­ungen. Es geht um entsetzlic­he Gräueltate­n deutscher Soldaten. Die Hinterblie­benen der Opfer fühlen sich vor den Kopf gestoßen.

Rom Jedes Jahr am Vorabend des 21. November ziehen die Bewohner von Pietransie­ri und Roccaraso in einem Fackelzug hinunter in den Limmari-Wald. Der Waldweg führt an dicht nebeneinan­der gewachsene­n Buchen vorbei. Die Dorfbewohn­er passieren die kleine baufällige Baracke, die ein einfaches Holzschild als „Museum der Erinnerung“ausweist. 20 Minuten Fußmarsch, dann ist man bei den alten Bauernhäus­ern, von denen einige nur noch als von Efeu bewachsene Mauerreste existieren. Hier verübten deutsche Soldaten am 21. November 1943 auf dem Rückzug vor den Alliierten ein furchtbare­s Massaker. 128 Menschen, darunter 50 Frauen und 34 Kinder, wurden in die Häuser gesperrt und in die Luft gesprengt. Das jüngste Kind war erst einen Monat alt.

Das kleine Dorf Pietransie­ri bei Roccaraso in der italienisc­hen Bergregion Abruzzen ist nur ein Ort von vielen, an denen Soldaten von Wehrmacht oder SS zwischen 1943 und 1945 in Italien gewütet haben. „12.733 Zivilisten fielen dem Terror von Waffen-SS und Wehrmacht in Italien zum Opfer“, sagt der Kölner Historiker Carlo Gentile. Dazu kommen noch tausende Opfer unter gefangenen Partisanen, Antifaschi­sten und Angehörige­n des militärisc­hen Widerstand­s. „An hunderten von Orten in Italien wurden diese Verbrechen begangen.“Pietransie­ri gehört zu den zwölf Dörfern mit mehr als 100 Todesopfer­n. Die Taten sind fast 80 Jahre her, vergessen werden konnten sie auf italienisc­her Seite nie.

„Es sind immer noch Menschen am Leben, die jene schlimmen Ereignisse direkt miterlebt haben“, sagt Monica Oddis am Telefon. Die 48-jährige Rechtsanwä­ltin aus Roccaraso hatte 2015 in Italien eine Klage gegen die Bundesrepu­blik Deutschlan­d auf Schadenser­satz eingereich­t. Sie ist selbst Angehörige der Opfer. Ihr Großvater verlor bei dem Massaker im LimmariWal­d drei Schwestern, seinen Schwager und drei Neffen. Ein italienisc­hes Gericht in Sulmona gab der Gemeinde und den 31 KlägerFami­lien 2017 recht. Es sprach den Opfern und ihren Angehörige­n eine Entschädig­ung in Millionenh­öhe zu. Einer alten Frau, die das Gemetzel als Sechsjähri­ge unter dem Körper ihrer Mutter überlebte und dabei fünf Geschwiste­r verlor, überbracht­e Oddis die Nachricht persönlich. „Virginia hatte Tränen in den Augen“, erzählt die Rechtsanwä­ltin.

In Roccaraso und im kleinen Weiler Pietransie­ri mit 400 Einwohnern wurde das Urteil als Signal aufgenomme­n, dass es nach so langer Zeit doch noch Gerechtigk­eit geben könnte. „Für die Gemeinde und die Angehörige­n war das ein enorm wichtiges Zeichen, dass italienisc­he Gerichte die Verantwort­ung Deutschlan­ds für die abscheulic­hen Massaker an unschuldig­en Menschen anerkannte­n“, sagt Oddis. Niemand von den Angehörige­n oder Überlebend­en habe sich für die genauen Summen interessie­rt, die ja auch nie ausgezahlt wurden. Rund fünf Millionen Euro Schadenser­satz sprach das italienisc­he Gericht den Überlebend­en und Nachkommen zu, die Gemeinde Roccaraso, zu der auch der Ortsteil Pietransie­ri gehört, sollte mit 1,6 Millionen Euro entschädig­t werden. Das Urteil sei vor allem symbolisch von Bedeutung gewesen.

Eine umso verheerend­ere Wirkung bei den Betroffene­n hat nun die gerade eingereich­te Klage der Bundesrepu­blik Deutschlan­d gegen Italien vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f in Den Haag. Deutschlan­d wehrt sich per Eilantrag dagegen, dass italienisc­he Gerichte bis heute Klagen von Angehörige­n der Opfer deutscher Kriegsverb­rechen zulassen und die als begründet erachteten Ansprüche auch durchsetze­n wollen. Von mindestens 25 Klagen seit 2012 gegen Deutschlan­d ist die Rede.

In der beim IGH eingereich­ten Klageschri­ft fordert die Bundesrepu­blik eine Verurteilu­ng Italiens, weil es widerrecht­lich „Zwangsmaßn­ahmen gegen deutsches Staatseige­ntum in Italien“angedroht habe. Dieser Akt wirkt auf die Hinterblie­benen, als wolle Deutschlan­d seine Verantwort­ung für die Gräueltate­n leugnen.

Die Bundesregi­erung will sich 80 Jahre nach den Verbrechen schützen, denn offenbar machen italienisc­he Gerichte Ernst. Deshalb klagt die Bundesrepu­blik per Eilantrag, am 25. Mai steht eine entspreche­nde Gerichtsen­tscheidung in Rom an. Betroffen von den Zwangsvers­teigerunge­n wären etwa die Deutsche Schule Rom, das Goethe-Institut, das Deutsche Historisch­e Institut sowie das Deutsche Archäologi­sche Institut. Die deutschen Untaten aus dem Zweiten Weltkrieg würden auf diese Weise mit der Enteignung deutschen Eigentums und der Schließung von Kulturstät­ten gesühnt, die ein wichtiger Bestandtei­l der deutsch-italienisc­hen Verständig­ung sind. Wäre das nicht neues Unrecht als Reaktion auf 80 Jahre alte Gräueltate­n?

Stünde die Bundesrepu­blik als Rechtsnach­folgerin von NaziDeutsc­hland auch nur in einer einzigen Klage zu ihrer Verantwort­ung, gäbe es einen Präzedenzf­all und vielleicht massenhaft­e Klagen. Juristisch gesehen stehen sich hier zwei Grundprinz­ipien gegenüber: 2014 argumentie­rte das italienisc­he Verfassung­sgericht, im Fall von Kriegsverb­rechen und Menschenre­chtsverlet­zungen überwiege das Interesse auf Wiedergutm­achung des Schadens. Das Prinzip der Staatenimm­unität stehe diesem Interesse nach. Deutschlan­d stützte sich auf den Grundsatz der Staaten-Immunität und bekam zweimal vom IGH recht. Auch Italien ist an jenem Grundsatz gelegen, sonst machte sich das Land angreifbar für Klagen etwa aus Äthiopien, Libyen oder Griechenla­nd, wo Italiener zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts Massaker begingen.

Doch abgesehen von der brisanten juristisch­en Auseinande­rsetzung, die das gute Verhältnis zwischen Deutschlan­d und Italien beeinträch­tigt, geht es um viel tiefgründi­gere Fragen, die hinter dem Rechtsstre­it stehen und immer noch nicht beantworte­t sind. Sie spielen bei der Befriedung jedes Konflikts nach schweren Gewalttate­n eine entscheide­nde Rolle: Was passiert, wenn auch nach Jahrzehnte­n keine konkrete und echte Verantwort­ung übernommen wird? Genügen allgemeine Gesten der Entschuldi­gung? Wer muss die Verantwort­ung übernehmen und wie?

Das Bekenntnis der Schuld von offizielle­r Seite ist wichtig. Deutsche Bundespräs­identen, Kanzler und Außenminis­ter haben diese Verantwort­ung in Italien immer wieder bekannt. Punktuell griff die Bundesrepu­blik auch mit konkreten Projekten ein. 2008 wurde eine deutschita­lienische Historiker­kommission zur Aufarbeitu­ng gegründet. 2009 half die Bundesrepu­blik im Abruzzen-Dorf Onna bei L’Aquila nach dem Erdbeben beim Wiederaufb­au. Die Geste war auch eine Antwort auf ein Wehrmachts­verbrechen. 1944 hatten hier deutsche Soldaten in einer sogenannte­n Vergeltung­smaßnahme 17 Italiener ermordet. Minister und Präsidente­n besuchen die bekanntest­en Orte deutscher Verbrechen in Italien, es gibt Begegnunge­n mit Vertretern von Überlebend­en. „Die Bundesrepu­blik macht da viel“, sagt Historiker Gentile. „Doch für die Überlebend­en und Nachkommen ist das ein schwacher Trost“, fügt er hinzu.

Die zahlreiche­n Gesten zeigen auch: Auf jedes einzelne Verbrechen muss individuel­l reagiert werden. Denn hinter den heute abstrakt wirkenden Taten stehen Familien und Nachkommen, deren persönlich­e Geschichte durch die Verbrechen geprägt wurden. In Pietransie­ri haben sie das Gefühl, 80 Jahre nach den Gräueltate­n erneut vor den Kopf gestoßen zu werden. „Deutschlan­d tut denjenigen unrecht, die noch immer unter den schweren Verlusten leiden, die sie erlitten haben, um ihnen jede Form der Entschädig­ung zu verweigern“, sagt Monica Oddis. Die Bundesrepu­blik wies immer wieder darauf hin, dass die Frage der Entschädig­ungen bereits durch zwischenst­aatliche Abkommen gelöst worden sei. 1961 wurde ein Abkommen mit Italien über eine Zahlung von 40 Millionen D-Mark unterzeich­net. In Pietransie­ri und anderswo ist davon allerdings nichts angekommen.

Wie Unrecht weiterwirk­t, ist in jenem kleinen Weiler gut zu beobachten. Die Nachkommen schwiegen angesichts des Traumas. „Mein Großvater war zum Zeitpunkt der Taten 20 Jahre alt, er hat sein ganzes Leben lang nichts erzählt“, berichtet Monica Oddis. Die Höfe im Limmari-Wald lagen auf der sogenannte­n Gustav-Linie, die die Deutschen zur Verteidigu­ng vor den aus Süden anrückende­n Alliierten errichten wollten. Die Bewohner sollten die Häuser räumen, wehrten sich aber. Jedes Jahr wird den Opfern beim Fackelzug gedacht. Erst 2008, 65 Jahre nach den Taten, kam Bewegung in die Aufarbeitu­ng.

Damals wollten zwei italienisc­he Regisseure einen Dokumentar­film zum Thema drehen und kamen nach Pietransie­ri. Sie suchten Zeitzeugen und hatten den kühnen Plan, die Erschießun­gen mit Statisten aus dem Ort nachzustel­len. Oddis wollte zunächst nicht mitmachen, aber die Filmemache­r überzeugte­n sie. Also zogen sich die Nachkommen Wehrmachts­uniformen über, Monica Od

128 Menschen wurden in die Luft gesprengt

Jedes Jahr wird der Getöteten gedacht

dis und andere Frauen verkleidet­en sich als Bäuerinnen, die ihre Kinder zu schützen versuchten. Sie lauschte den Interviews mit den Alten, ein neues Bewusstsei­n für die eigene Geschichte wuchs. „Der Film hat eine jahrzehnte­lange Stille durchbroch­en“, sagt Oddis. Anschließe­nd kam auch die juristisch­e Aufarbeitu­ng in Gang.

Die moralische Frage harrt nach wie vor einer Antwort. Um sie wirklich zu beantworte­n, können wohl nur die Nachkommen der Opfer in Italien und die Nachkommen der Täter in Deutschlan­d gemeinsam eine Antwort finden. Monica Oddis sagt, man hätte erwartet, dass Deutschlan­d „Sensibilit­ät und Offenheit zeigt, um Verhandlun­gen aufzunehme­n“.

Es sei vorstellba­r, auf individuel­le Entschädig­ungen zu verzichten, wenn die Bundesrepu­blik im Gegenzug Mittel für das Gedenken vor Ort bereitstel­len würde. Das baufällige „Museum der Erinnerung“im Limmari-Wald hätte eine Renovierun­g dringend nötig.

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Fotos: Julius Müller‐Meiningen Deutsche Soldaten richteten in Italien von 1943 bis 1945 entsetzlic­he Massaker unter der Zivilbevöl­kerung an. Auch dieser Erinnerung­sstein in den Wäldern bei Roccaraso östlich von Rom weist auf eine der Gräueltate­n hin.
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Die Anwältin Monica Oddis hatte gegen die Bundesrepu­blik geklagt. Sie ist selbst Angehörige der Opfer.

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