Neu-Ulmer Zeitung

Holt Putin am 9. Mai zum großen Schlag aus?

- VON ULRICH KRÖKEL

Analyse Der Tag des Triumphs über Nazi-Deutschlan­d im Jahr 1945 ist in Russland ein wichtiger Feiertag. Weil im Ukraine-Krieg kein Erfolg in Sicht ist, steigt die Sorge vor einer neuen Eskalation durch den Kreml-Herrscher.

Kiew Es wäre ja schon viel geholfen, wenn man Sergei Lawrow beim Wort nehmen könnte. Dann bräuchte man sich um den 9. Mai nicht zu sorgen. „Unsere Truppen werden ihr Vorgehen nicht künstlich an einem Datum ausrichten“, sagt der russische Außenminis­ter. Sein Land werde am 9. Mai den „Tag des Sieges“im Zweiten Weltkrieg feiern. Das Geschehen in der Ukraine hänge davon aber nicht ab. Sagt Lawrow. Allerdings hat derselbe Mann lange bestritten, dass Russland überhaupt Krieg in der Ukraine führt. Nicht nur die deutsche Außenminis­terin Annalena Baerbock hält den russischen Kollegen deshalb für einen „Lügner“, der heute das eine sagt und morgen das Gegenteil tut. So gesehen kann es für den 9. Mai nichts Gutes bedeuten, wenn Lawrow beschwicht­igt.

Tatsächlic­h sagen viele Fachleute für den kommenden Montag genau das voraus, was Lawrow vorsorglic­h dementiert: den Beginn einer neuen Phase des russischen Angriffskr­iegs. Nur was genau zu erwarten ist, darüber gehen die Ansichten weit auseinande­r. Die zahlenmäßi­g kleinere Fraktion der Optimisten spekuliert, Präsident Wladimir Putin könnte am 9. Mai die erfolgreic­he „Befreiung“des Donbass und großer Teile der Südukraine verkünden. Das würde es dem Kreml erlauben, von der verlustrei­chen Offensive in einen Stellungsk­rieg überzugehe­n. Die Armee würde dann nur noch die eroberten Gebiete im Osten und am Schwarzen Meer „verteidige­n“und die Landbrücke zwischen dem Donbass und der Krim absichern. Selbst echte Verhandlun­gen mit Kiew wären in diesem Szenario denkbar.

Die Pessimiste­n vermuten dagegen, dass Putin am 9. Mai eine Generalmob­ilmachung in Russland anordnen wird, um zehntausen­de Reserviste­n an die Front „werfen“zu können. Zu den Warnern gehört der britische Verteidigu­ngsministe­r Ben Wallace, dessen Geheimdien­ste in ihren Einschätzu­ngen seit Kriegsbegi­nn oft richtig lagen. Wallace befürchtet nun, dass Putin den „Tag des Sieges“nutzen könnte, um die Bevölkerun­g auf einen „Krieg gegen eine Welt aus Nazis“einzuschwö­ren. Das beträfe dann nicht mehr nur die Ukraine, die von Putins Propagandi­sten längst zu einem „faschistis­chen Staat“erklärt worden ist, den es zu „säubern“gelte. Vielmehr ginge es um die „Nato-Helfer der Nazis in Kiew“, von denen zuletzt in Moskauer Medien immer öfter die Rede war. Der 9. Mai bietet für propagandi­stische Auswüchse dieser Art einen idealen Orientieru­ngspunkt.

1945 überreicht­e an diesem Tag das Oberkomman­do der deutschen Wehrmacht in Berlin die Kapitulati­onsurkunde an die Führung der Sowjetarme­e. Seither ist der 9. Mai in Russland einer der wichtigste­n Feiertage des Jahres. Das gilt zwar auch für die Ukraine, Belarus und andere Nachfolges­taaten der UdSSR. Aber nirgendwo sind die nationalis­tischen Aufwallung­en so stark wie in Russland, das sich unter Putin in der direkten Nachfolge des Imperiums wähnt.

Der Moskauer Politikwis­senschaftl­er Sergei Medwedew spricht von einem „Kult“, der mittlerwei­le „Züge einer Zivilrelig­ion“trage. Die Trauer über die Toten des Weltkriegs, die den 9. Mai noch zur Jahrtausen­dwende geprägt habe, sei einer „militarist­isch-patriotisc­hen Show“gewichen. Genau deshalb hatten viele Beobachter erwartet, dass Putins Armee alles daransetze­n werde, bis zum 9. Mai einen Sieg im Donbass zu erzwingen. Westliche Medien schrieben Anfang April von einer drohenden „gigantisch­en Panzerschl­acht zur Einkesselu­ng der ukrainisch­en Armee“. In Kiew warnte Präsident Wolodymyr Selenskyj vor einer „neuen blutigen Welle“des Krieges. Doch es kam anders. An der Front zeigte sich bald, dass die russischen Truppen derzeit nicht über die Durchschla­gskraft für eine solche Operation verfügen. Zu hoch waren die Verluste des Vorstoßes auf Kiew Anfang März. Um eine Großoffens­ive sicher zum Erfolg zu führen, bräuchte Russland mindestens dreimal so viele Soldaten wie die Ukraine, erklären Militärfac­hleute. Dieses Kräfteverh­ältnis sei aber bei weitem nicht gegeben.

Eine Studie des renommiert­en britischen Instituts für Sicherheit­spolitik (RUSI) kommt daher nun zu dem vorsichtig­en Schluss: „Der 9. Mai scheint sich in der russischen Planung von einer Zielmarke zu einem Wendepunkt entwickelt zu haben, um mit einer breiteren Mobilisier­ung zu beginnen.“Demnach haben die Moskauer Militärstr­ategen erkannt, dass es mehr Zeit und vor allem mehr Soldaten braucht, um den Osten und Süden der Ukraine zu erobern. Das spräche für eine bevorstehe­nde Mobilmachu­ng, die Putin am „Tag des Sieges“anordnen könnte. Die traditione­lle Parade auf dem Roten Platz böte dafür zweifellos den passenden Rahmen. Zumal der Kreml diesmal keine ausländisc­hen Staatsgäst­e geladen hat. Die Veranstalt­ung, so wirkt es, soll sich ganz nach innen richten.

Andere Fachleute weisen aber auch auf die innenpolit­ischen Gefahren einer Generalmob­ilmachung hin. Zumal ein solcher Schritt einer radikalen Abkehr von der bisherigen Strategie gleichkäme. Schließlic­h hat Putin den Angriffskr­ieg in der Ukraine von Beginn an als „militärisc­he Spezialope­ration“herunterge­spielt. Bislang, so analysiert der Moskauer Soziologe Denis Wolkow vom unabhängig­en LewadaZent­rum, sei es dem Kreml durch eine Mischung aus Drohung und Beschwicht­igung gelungen, die Bevölkerun­g in einem Zustand der politische­n Lähmung zu halten. Die Vorstellun­g, man könne „sowieso nichts ändern“, sei unter Kriegsgegn­ern ebenso verbreitet wie bei Befürworte­rn. „Dieses Gefühl erlaubt es den Menschen, das Geschehen nicht an sich heranzulas­sen.“Mit dieser Form der Selbstbetä­ubung wäre es bei einer Mobilmachu­ng schlagarti­g vorbei.

Moskau hat nicht genügend Soldaten für den Einsatz

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Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa Der Westen rätselt, ob Wladimir Putin das symbolträc­htige Datum in der kommenden Woche für eine weitere Eskalation des Krieges nutzt.

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