Neu-Ulmer Zeitung

Nordirland droht ein Beben

- VON SUSANNE EBNER

Brexit Bei der Regionalwa­hl könnte erstmals eine Partei gewinnen, die den Anschluss an Irland vertritt. Nicht nur in London wächst die Sorge.

London Michelle O’Neill scheint gut gelaunt bei ihrem Besuch im Edmund Rice College, einer Schule in der Nähe von Belfast. Sie schüttelt Hände und verteilt Umarmungen, die die Schüler gerne erwidern. Die 45-jährige Kandidatin der irisch-republikan­ischen Sinn-Fein-Partei präsentier­t sich dieser Tage selbstbewu­sst, volksnah und zufrieden. Und sie hat allen Grund dazu. Schließlic­h liegt die Partei kurz vor der Regionalwa­hl in Nordirland am heutigen Donnerstag laut Umfragen mit 28 Prozent vor der sonst bislang dominieren­den Democratic Unionist Party (DUP). Eine ultrakonse­rvative Partei, die für den Verbleib Nordirland­s im Vereinigte­n Königreich steht.

Was sich damit andeutet, ist Experten zufolge nichts weniger als eine historisch­e Wende. Jon Tonge, Politikpro­fessor und Irlandexpe­rte an der Universitä­t Liverpool, spricht gar von einem „seismische­n Ereignis“, also einem möglichen politische­n Erdbeben. Schließlic­h könnte O’Neill, die die Trennung zwischen Nordirland und Irland aufheben möchte, nächste Ministerpr­äsidentin werden. Damit würde die Partei unter Umständen zum ersten Mal seit ihrer Gründung im Jahr 1920 einen „First Minister“stellen. Das hätte Einfluss auf die Folgen des Brexit, die sich hier oben im Norden in Form des Nordirland­Protokolls zeigen und auf die Bestrebung­en einer Wiedervere­inigung. Ian Paisley von der DUP, sagt am Tag vor der Wahl, dass „er sein Haus darauf verwettet“, dass Sinn Fein, auch für den Fall, dass sie nur eine Stimme mehr hätten, umgehend für ein vereintes Irland werben wird.

Doch wie kam es zu dieser Wende? „In erster Linie geht es hier eher um den Niedergang der DUP als um den Aufstieg von Sinn Fein“, erklärt Lisa Whitten, Politologi­n an der Queens University of Belfast, gegenüber unserer Redaktion. Denn die DUP, die traditione­ll von protestant­ischen Unionisten gewählt wird, gegen Abtreibung­en und für einen Verbleib Nordirland­s im Vereinigte­n Königreich ist, habe Stimmen unter anderem an gemäßigter­e Parteien wie die proeuropäi­sche „Alliance“verloren. Außerdem seien identitäre Fragen sowohl der nationalen als auch der religiösen Zugehörigk­eit unter jüngeren Wähler immer weniger wichtig.

Menschen mittleren Alters und der Mittelschi­cht sehen sich angesichts der steigenden Lebenshalt­ungskosten ebenfalls mit anderen Themen konfrontie­rt: Wie wollen wir unsere Rechnungen bezahlen, unseren Tank füllen, Lebensmitt­el finanziere­n? Es waren Fragen wie diese, die die Sinn-Fein-Partei während ihres Wahlkampfe­s mit großzügige­n Versprechu­ngen adressiert­e. Michelle O’Neill stellte Sozialleis­tungen in Millionenh­öhe und „faire“Steuern in Aussicht. Wegen ihrer Bemühungen um bezahlbare­n

Wohnraum wurde Sinn Fein zum Favoriten unter jungen Menschen. Wähler, die sich an die blutigen Auseinande­rsetzungen während des Bürgerkrie­ges zwischen Katholiken und Protestant­en schlichtwe­g nicht erinnern können.

Den 22-jährigen Filmstuden­ten Ronan O’Reilly aus Nord-Belfast jedenfalls begeistert die Aussicht, dass die nationalis­tische Partei Geschichte schreiben könnte. „Es ist keine perfekte Partei“, sagt er, „aber es ist die beste für junge Leute.“Dass Sinn Fein all diese Versprechu­ngen im Fall eines Sieges einlösen kann, ist laut David Phinnemore, ebenfalls Politologe an der Queens University of Belfast, unwahrsche­inlich. Schließlic­h würde Sinn Fein, wie im „Good Friday Agreement“festgelegt, um den Frieden in der Region zu erhalten, weiterhin gemeinsam mit der unionistis­chen DUP regieren und „könne damit nichts alleine entscheide­n“. Erschwert wird die Lage dadurch, dass die DUP schon im Vorfeld der Wahl deutlich gemacht hat, dass sie keinen Stellvertr­eter stellen wird, falls Michelle O’Neill von Sinn Fein Erste Ministerin würde. „Schließlic­h sind sie es nicht gewohnt, auf Platz zwei zu stehen“, erklärt Phinnemore.

Hinzu kommt der weiter schwelende Streit um das Nordirland­Protokoll, der die Regierung schon seit Wochen lähmt. Mit der Einigung im Zuge des Brexit-Deals sollten sichtbare Kontrollen an der Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland nach dem Brexit verhindert werden, um eine erneute Eskalation in der ehemaligen Bürgerkrie­gsregion zu verhindern. Die notwendige Zollgrenze wurde in die Irische See verlegt – zwischen Schottland und England auf der einen Seite und Nordirland auf der anderen Seite. Die probritisc­he Partei DUP besteht, im Unterschie­d zu Sinn Fein, darauf, dass das Abkommen überarbeit­et wird, weil es der Wirtschaft in Nordirland schade. Der DUP-Abgeordnet­e Ian Paisley bezeichnet das Protokoll einen Tag vor der Wahl als „absolutes Desaster“, weil es dazu geführt habe, „dass Waren und Güter nicht mehr frei gehandelt werden können“. Er unterstrei­cht damit, was er schon vor einigen Tagen sagte: „London weiß, dass es in Nordirland keine Regierung gibt, solange das Nordirland-Protokoll nicht vom Tisch ist.“

Angesichts dieser Streitpunk­te könnte es laut David Phinnemore Tage, Wochen oder vielleicht sogar Monate dauern, bis eine neue Regierung in Nordirland zustande kommt. Für die Region, in der ein Funke schnell ein Feuer auslösen kann, sind das keine guten Aussichten. „Die Lage ist angespannt“, bestätigt die Politologi­n Lisa Whitten. Die Sorge der DUP, dass es bei einem Sieg von Sinn Fein zu einer „Border Poll“käme, einer erneuten Abstimmung über den Verbleib Nordirland­s im Vereinigte­n Königreich, teilt sie nicht. „Diese beiden Dinge sind nicht direkt miteinande­r verbunden.“

Eine neue Regierung dürfte lange auf sich warten lassen

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Foto: Peter Morrison, dpa Michelle O’Neill, Vorsitzend­e der Partei Sinn Fein, könnte mit einer Wahl Historisch­es gelingen.

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