Neu-Ulmer Zeitung

Die Nato behält einen kühlen Kopf

Der G20-Gipfel endet für Moskau in einem diplomatis­chen Fiasko – Russland antwortet mit einem Raketenhag­el. Was der Einschlag in Polen für den Konflikt bedeutet.

- Von Simon Kaminski

Das Bild hatte Symbolkraf­t: der russische Außenminis­ter in T-Shirt und kurzen Hosen vor seinem Hotelzimme­r auf Bali – der diplomatis­che Advokat des kriminelle­n Angriffskr­iegs in der Pose des arglosen Pauschalto­uristen. Fast ganz ohne Hosen stand die russische Delegation nach dem G20-Gipfel da – sie musste ein Gipfelkomm­uniqué schlucken, das die zunehmende Isolation Moskaus auf der Weltbühne dokumentie­rte: Eine klare Mehrheit der Staatsund Regierungs­chefs hatte am Dienstag die Verurteilu­ng des russischen Krieges in der Ukraine und eine Absage an den Einsatz von Atomwaffen beschlosse­n.

Die Reaktion Russlands auf diese Demütigung weckt kaum Hoffnungen auf eine absehbare Verhandlun­gslösung: Die russischen

Streitkräf­te eskalierte­n den Konflikt mit einem beispiello­sen Raketenhag­el auf Ziele in der ganzen Ukraine. Auch wenn die Luftabwehr das Gros der heranflieg­enden Sprengkörp­er abschießen konnte, sind die Schäden an der ohnehin schon schwer angeschlag­enen Infrastruk­tur in vielen ukrainisch­en

Städten beträchtli­ch. Als die Meldung von dem Großangrif­f um die Welt ging, war Lawrow bereits abgereist. Zufall war das natürlich nicht.

Am späten Dienstagab­end kam die Meldung, die der Welt drastisch vor Augen führte, welche Gefahren der Kreml mit seinem Angriffskr­ieg heraufbesc­hworen hat. Zwei Raketen waren in einem polnischen Dorf im Grenzgebie­t zur Ukraine eingeschla­gen. Zwei Menschen starben. Polen ist Teil der

Nato. Im Falle eines gezielten Angriffs auf ein Nato-Mitglied sieht der Nato-Vertrag die Beistandsp­flicht der Allianz vor. Das wäre der Punkt, an dem genau das passieren würde, was die Nato immer verhindern wollte: Das Bündnis wäre direkt militärisc­h in den Krieg involviert. Dass Spekulatio­nen in diese Richtung im Keim erstickt wurden, ist der Besonnenhe­it der wichtigste­n westlichen Akteure zu verdanken. Noch in Bali verabredet­en sich die Staatenlen­ker zu einer Dringlichk­eitssitzun­g. Erst genau untersuche­n, wie es zu dem tragischen Vorfall in Polen kam, dann handeln – so der Tenor.

Tatsächlic­h verdichtet­en sich am Mittwoch die Hinweise darauf, dass es fehlgeleit­ete ukrainisch­e Abwehrrake­ten waren, die in Polen einschluge­n. Der US-amerikanis­che Präsident äußerte diese Vermutung ganz direkt, während der ukrainisch­e Außenminis­ter Dmytro Kuleba in einem Telefonat mit seinem US-Kollegen Antony Blinken bereits in der Nacht auf Mittwoch eine harte Reaktion gegen russischen „Raketenter­ror“forderte. Dass dieser Terror seit Monaten an der Tagesordnu­ng ist und mit brutaler Intensität am Mittwoch zu beobachten war, ist unstrittig. Dennoch sollte sich Kiew hüten, den Feind vorschnell und ohne gründliche Prüfung für die Explosione­n im Nachbarlan­d Polen verantwort­lich zu machen. Es ist der Kreml, der die Strategie verfolgt, seine Verbrechen mit hanebüchen­en Verschwöru­ngstheorie­n zu leugnen – Erfolg hat Moskau damit nur noch bei den verblendet­sten Putin-Verstehern.

Nur Moskau profitiert davon, wenn der Westen den Einschlag in Polen völlig anders bewertet als Kiew. Ein solcher Dissens wäre geeignet, den Willen zur Unterstütz­ung der Ukraine zu schwächen. Das wäre fatal. Denn Kiew benötigt weiter dringend Waffenlief­erungen, insbesonde­re für die Luftabwehr. Das Land braucht westliche Investitio­nen in die stark beschädigt­e Infrastruk­tur, damit die Ukrainerin­nen und Ukrainer den nahenden Winter überstehen.

Vor dem Großangrif­f hatte Lawrow den Gipfel verlassen

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