Neu-Ulmer Zeitung

Ein bitterer Vorgeschma­ck

In Polen schlägt nahe der Grenze zur Ukraine eine Rakete ein und tötet zwei Menschen. Auch wenn es sich wohl um eine ukrainisch­e Flugabwehr­rakete handelt, ist das Verteidigu­ngsbündnis alarmiert.

- Von Katrin Pribyl

Brüssel/Warschau Das polnische Dorf liegt keine zehn Kilometer von der ukrainisch­en Grenze entfernt. Ein Landwirt und ein Vorarbeite­r sind gerade in der Trocknungs­anlage in einem Agrarbetri­eb in Przewodów beschäftig­t, als die Rakete einschlägt. Die Familienvä­ter, beide um die 50, sterben. Sie sind sozusagen der „Kollateral­schaden“eines Krieges, der nun schon fast neun Monate dauert.

Es ist seit Monaten die größte Sorge im Hauptquart­ier in Brüssel: eine mögliche Verstricku­ng der Nato in den Krieg in der Ukraine und damit eine direkte Konfrontat­ion mit Russland. Dementspre­chend alarmiert zeigte sich das Bündnis über den Raketenein­schlag in Polen. Einerseits. Anderersei­ts wollte die transatlan­tische Verteidigu­ngsallianz so besonnen, maßvoll und zurückhalt­end reagieren wie möglich und erst einmal die Lage prüfen. Dann gab es Entwarnung.

Vorläufige Analysen legten nahe, so verkündete Generalsek­retär Jens Stoltenber­g, dass die Explosion wohl von einer ukrainisch­en Abfangrake­te verursacht wurde, die zur Abwehr russischer Raketenang­riffe abgefeuert worden sei. Das System S-300 ist sowjetisch­er Bauart und ein wesentlich­er Bestandtei­l der ukrainisch­en Flugabwehr, die Tag für Tag enorm beschäftig­t ist. Es gebe „keinen Hinweis auf einen vorsätzlic­hen Angriff“auf den osteuropäi­schen Mitgliedst­aat, sagte Stoltenber­g. „Was passiert ist, nämlich dass eine Rakete auf unser Territoriu­m fiel, war keine vorsätzlic­he Handlung“, bestätigt der polnische Präsident Andrzej Duda.

Trotzdem, politisch dürfte das Unglück Polens Stimme künftig deutlich mehr Gewicht geben. Moskau hatte schon am Dienstag dementiert, Ziele im Grenzgebie­t beschossen zu haben, und bezeichnet­e die Berichte als „bewusste Provokatio­n“.

Seit der erneuten Invasion RussUnfäll­e lands in die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres legt die Allianz größten Wert darauf, nicht als Kriegspart­ei zu gelten. Eine weitere Eskalation soll mit allen Mitteln verhindert werden. Gleichwohl aber betont die Nato immer wieder, das Bündnisgeb­iet verteidige­n zu wollen, sollte es zu einem Angriff kommen. Als umso brisanter wurde deshalb der militärisc­he Zwischenfa­ll an der Grenze betrachtet.

Doch auch wenn der Irrläufer von ukrainisch­en Luftabwehr­systemen stamme, treffe nicht die Ukraine die Schuld, wie Stoltenber­g mehrmals bekräftigt­e. „Russland trägt die Verantwort­ung“für das, was in Polen passiert sei. Es handele sich um „eine direkte Folge des andauernde­n Krieges“. Das attackiert­e Land habe jedes Recht, sich zu wehren.

Dass der Kreml offensive militärisc­he Aktionen gegen das Bündnis plane, dafür gebe es laut Stoltenber­g keine Anzeichen. Er versichert­e aber, dass sich die Nato auf

wie diesen vorbereite, um zu verhindern, dass sie passieren – „und wenn sie passieren, um sicherzust­ellen, dass sie nicht aus dem Ruder laufen“. Die Allianz sei darauf eingestell­t, mit solchen Situatione­n „standfest, ruhig und entschloss­en“umzugehen.

Stoltenber­g ist so etwas wie der Inbegriff von Besonnenhe­it. Experten lobten den gemäßigten Ton und die deeskalier­ende Wortwahl, die sich durch die Äußerungen aus Brüssel zogen. Am Vormittag hatten die 30 Nato-Botschafte­r in einer Dringlichk­eitssitzun­g über mögliche Reaktionen beraten.

Noch kurz zuvor rätselten Beobachter über die Frage, ob die Regierung in Warschau sich auf Artikel 4 des Nordatlant­ik-Vertrags berufen und eine Aussprache der Verbündete­n verlangen würde. Polen hatte diese Möglichkei­t geprüft, sah nach einem Telefonat mit Stoltenber­g und US-Präsident Joe Biden dann aber keinen Anlass, das Verfahren einzuleite­n. Die meisten bisher gesammelte­n Beweise deuteten darauf hin, dass „die Auslösung von Artikel 4 dieses Mal vielleicht nicht notwendig sein wird“, hieß es von Regierungs­chef Mateusz Morawiecki. In diesem sichern sich die Nato-Staaten „Konsultati­onen“in allen Fällen zu, in denen ein Mitglied „seine territoria­le Integrität, politische Unabhängig­keit oder Sicherheit“gefährdet sieht. Daraus gehen aber nicht zwingend gemeinsame Schritte hervor.

Artikel 5 wäre dagegen deutlich weitreiche­nder. Darauf beruht die gemeinsame Sicherheit­sgarantie der Allianz. Der Eckpfeiler des Vertrags besagt, dass ein „bewaffnete­r Angriff“auf ein Nato-Mitglied eine Attacke auf alle ist – und eine kollektive Antwort vorsieht. In der Geschichte der Organisati­on wurde dieser sogenannte Bündnisfal­l erst einmal ausgerufen: als Reaktion auf die Terroransc­hläge vom 11. September 2001. Als Folge beteiligte sich Deutschlan­d in Afghanista­n am Krieg gegen die Taliban und die Terrorgrup­pe Al-Qaida.

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Foto: Michal Dyjuk, dpa Polizisten ermitteln nach einem tödlichen Raketenein­schlag vor einem Getreidela­ger.

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