Neu-Ulmer Zeitung

Ukrainisch­es Ensemble musiziert virtuos im Exil

Das Festival Weißenhorn Klassik begeistert mit unkonventi­onellen Stücken, neuen Beethoven-Interpreta­tionen und einer 17-jährigen Virtuosin aus Neu-Ulm.

- Von Florian Arnold

Weißenhorn Wenn der UkraineKri­eg irgend etwas Positives zur Folge hatte, dann vielleicht dieses: Dass sich Musiker im (deutschen) Exil treffen, Musiker, die sich in der Ukraine oft jahrelang nicht sahen, nun aber, wie Cellist Lev Kucher, gemeinsam auftreten und ihr Land repräsenti­eren dürfen.

Das Mriya-Quartett ist das Ergebnis dieser Exilsituat­ion, der Traum von einer Möglichkei­t, Musik zu machen jenseits von Kriegsallt­ag und Lebensgefa­hr. Einen künstleris­chen Weg gehen, ohne vom Tod bedroht zu sein – das bedeutet derzeit, fern der Heimat zu sein. So schwebte also über dem Spiel von Elena und Anna Zurkan (Violine), Lev Kucher (Violoncell­o) und Kateryna Suprun (Viola) immer auch der bedrückend­e Gedanke an das, was Russland derzeit in der Ukraine anrichtet.

Den zahlreiche­n Konzertbes­uchern aber öffnete sich ein wahrer Kosmos. Ukrainisch­e Komponiste­n, von denen man in Mitteleuro­pa wenig oder nie etwas hörte, stellten das Herz des Programms dar. Und dieses Herz hatte auch schon lange vor dem aktuellen Krieg einen melancholi­schen Schlag, so etwa die „Suite auf ukrainisch­en Volkslied-Themen“von Borys Lyatoshyns­ky (1894-1968), den man, wenn überhaupt, als Symphonike­r großen Formats kennt. Seine kammermusi­kalisch-feine Suite setzt mit einer sehr eindrückli­chen Melodie ein, die nur als „Trauermelo­die“bezeichnet werden kann.

Das folgende Andantino schlägt hellere Töne an, kann aber wie das ihm folgende Andante eine gewisse Schwermüti­gkeit nicht verleugnen. Das finale „Allegro scherzando“wiederum ist ein gewitztes Spiel aus tänzerisch­en Einfällen, die von den Violinen und der Viola

Die 17-jährige Marie Helling aus Neu-Ulm spielte Werke von Karol Szymanovsk­i und Witold Lutosławsk­i.

über einem Ostinato des Cello kredenzt werden.

Mit diesem Werk wirft der Komponist gewisserma­ßen auch einen Blick zurück auf Musiktradi­tionen und (Volks-)Klänge, die im 20. Jahrhunder­t zunehmend auf dem Rückzug waren. Hinreißend schön die „Melodie“von Myroslav Skoryk (1938-2020), ein osteuropäi­sches Geschwiste­rkind zu Samuel

Barbers herzerweic­hender „Elegie“und in gleichem Maße berauschen­d schön. Das Werk fand die denkbar engagierte­ste Umsetzung durch das Mriya-Quartett.

Nach der Pause erwartete das Publikum so etwas wie ein Experiment. Kateryna Titova, eine Virtuosin ohne Furcht, präsentier­te mit dem um eine zweite Cellostimm­e (Maria Mohylevska) ergänzten

Quartett eine Kammermusi­kfassung des 4. Klavierkon­zerts von Ludwig van Beethoven (1770-1827). Wie soll das gehen, könnte man fragen – die Fülle und Breite dieses Virtuosenk­onzerts als Kammermusi­k? Sehr gut geht es, man möchte sogar sagen: revolution­är.

Pianistin und Quartett spielten mit einer beglückend­en Achtsamkei­t,

kein Blatt Papier passte zwischen die Solistin und ihr Ensemble. Das Klassiker-Kraftpaket zeigt sich in dieser Fassung sehniger, direkter, manchmal fast herb – und passte damit erstaunlic­h nah in die Klangwelte­n der ukrainisch­en Komponiste­n des 20. Jahrhunder­ts, von denen es eingerahmt wurde. Wenn auch die Klangfülle den Renaissanc­e-Saal im Fuggerschl­oss manchmal schier zu sprengen drohte, war doch jede Minute reiner Genuss. Präzision, Spielfreud­e und eine funkelnde, wunderbar ausdiffere­nzierte Umsetzung trugen den Interpreti­nnen und Interprete­n reichlich Applaus ein.

So lebendig-federnd, so energievol­l und unkonventi­onell hört man Beethoven selten. Wassyl Barwinskyj (1888-1963) stellte im Programm mit seinem kurzen, andächtige­n „Gebet“und dem substanzre­ichen Quartett „Molodijniy“zwei Programmpu­nkte mit Gewicht. „Molodijniy“verarbeite­t wie auch die Suite von Lyatoshyns­ky Volkslied-Harmonien, wobei sich im Finale die Themen der vorangegan­genen Passagen überaus gewitzt zu einem druckvolle­n Parforceri­tt verweben. Hanna Hawrylez’ abschließe­nde kleine Hymne „Do Mariyi“(Für Maria) rundete einen phänomenal­en zweiten Konzertabe­nd der diesjährig­en Weissenhor­n-Klassik-Auflage ab.

Eine schöne Überraschu­ng bot dieses Konzert zudem mit dem Auftritt der 17-jährigen Marie Helling aus Neu-Ulm. Die junge Virtuosin spielte mit schon profession­eller Ausbalanci­ertheit zwei Werke von Karol Szymanovsk­i und Witold Lutosławsk­i. Wie sich die Preisträge­rin des Klassikpre­ises des WDR3 in die dunkel-zerklüftet­en Abgründe des „Subito“von Lutosławsk­i hineindach­te, wie sie die reich-spätromant­ische Klangkultu­r Szymanovsk­is zum Klingen brachte, das hatte große Klasse.

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Foto: Florian Arnold

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