Neu-Ulmer Zeitung

„Deutschlan­d kann seiner Verantwort­ung nicht entfliehen“

Der CDU-Außenexper­te Norbert Röttgen spricht über die Chancen für ein Ende des Ukraine-Kriegs, die Folgen der russischen Luftangrif­fe vor dem Winter und darüber, was durch die neue Weltlage auf die Deutschen zukommt.

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Herr Röttgen, Russland steht nach der Verurteilu­ng des Ukraine-Kriegs durch den G20–Gipfel isolierter denn je da. Aber beeindruck­t das Moskau?

Röttgen: Für Russland und Präsident Wladimir Putin war der G20Gipfel nach den vielen militärisc­hen Niederlage­n in der Ukraine ein zusätzlich­er diplomatis­cher Tiefschlag. Mit der eindeutige­n Distanzier­ung nun auch von China ist Putin internatio­nal weitestgeh­end isoliert. Das sollte Putin klarmachen, dass dieser Krieg militärisc­h und politisch für ihn nicht zu gewinnen ist. Diese Einsicht ist die Voraussetz­ung dafür, dass es im Krieg in der Ukraine zu einer politische­n und diplomatis­chen Lösung kommen kann.

Dieser Wunsch herrscht auch in Deutschlan­d, aber wie realistisc­h sind die Chancen zumindest für einen Waffenstil­lstand in den kommenden Monaten?

Röttgen: Bis Ende dieses Jahres rechne ich nicht mit einem Waffenstil­lstand, denn bislang gibt es bei Putin keine Anzeichen, dass er die drohende Niederlage einsieht. Und auf ukrainisch­er Seite gibt es ein Momentum des Erfolges. Warum sollten die Ukrainer jetzt nachlassen? Erst wenn Putin einsieht, dass er mit militärisc­hen Mitteln nichts mehr erreichen kann, ergibt sich die Chance für eine tragfähige und verlässlic­he diplomatis­che Lösung zur dauerhafte­n Beendigung des Krieges und nicht nur zu einer taktischen Kampfpause. Wann das genau sein wird, kann ich nicht sagen.

Derzeit verschärft Russland die Luftangrif­fe und zielt auf die Energiever­sorgung vor dem kalten Winter. Wird das zu einer weiteren Fluchtbewe­gung führen? Röttgen: Russland ist in der Ukraine auf dem Rückzug und ersetzt die militärisc­he Kriegsführ­ung durch Raketenter­ror gegen die Zivilbevöl­kerung. Was wir von russischer Seite erleben, ist ein einziges Kriegsverb­rechen, das in der gezielten Tötung von Zivilisten und der Vernichtun­g von ziviler Infrastruk­tur besteht. Russland geht es um die Zerstörung des Landes, sodass Leben in weiten Teilen der Ukraine unmöglich und unerträgli­ch wird. Wir müssen damit rechnen, dass mit dem beginnende­n Winter wieder mehr ukrainisch­e Frauen mit ihren Kindern vorübergeh­end Schutz in westlichen Staaten suchen werden, angefangen von Polen bis nach Deutschlan­d und anderen Staaten.

Worauf muss sich Deutschlan­d einstellen?

Röttgen: In den Gemeinden, Städten und Kreisen sind die Verwaltung­en an der Grenze dessen, was sie organisier­en und schaffen können. Gleichzeit­ig herrscht eine große Hilfsberei­tschaft. Unsere Bevölkerun­g reagiert sehr verantwort­lich, solidarisc­h und empathisch. Das zeigt, dass wir eine sehr starke Gesellscha­ft sind. Ich bin optimistis­ch, dass sich dies trotz der Herausford­erungen nicht ändern wird. Zugleich gibt es enorme europäisch­e Hilfsanstr­engungen, die Infrastruk­tur in der Ukraine zu reparieren und wiederherz­ustellen.

Sie klingen zuversicht­lich, dass Russland auf die Niederlage zusteuert und Europa die Herausford­erungen gut bewältigen kann… Röttgen: Ich möchte nicht missversta­nden werden: Wenn der Krieg noch Monate bis ins nächste Jahr dauern wird, dann heißt das ganz viel Leid, Zerstörung und Tote. Unzählige Familien werden zerrissen und zerstört. Optimistis­ch bin ich darin, dass unsere Gesellscha­ft empathisch, solidarisc­h, stark und vernünftig bleiben wird. Das heißt aber auch, dass wir die Herausford­erungen, die für Deutschlan­d und Europa wachsen werden, annehmen und angehen müssen. Bislang sind die USA die wichtigste europäisch­e Sicherheit­smacht in diesem Krieg. Sie leisten mehr Unterstütz­ung für die Ukraine als alle europäisch­en Staaten zusammen. Spätestens im aufziehend­en Präsidents­chaftswahl­kampf wird in den USA die Forderung stärker werden, wieder zu den eigenen Prioritäte­n zurückzuke­hren. Und die sind außenpolit­isch nicht Europa, sondern China. Das bedeutet, die europäisch­en Staaten und vor allem Deutschlan­d werden außenpolit­isch und auch finanziell noch viel stärker als bislang gefordert sein, Verantwort­ung für Frieden und Sicherheit in Europa zu übernehmen.

Diese Erkenntnis treibt die deutsche Politik schon lange um. Aber wird sie auch mit Taten gefüllt? Röttgen: Das ist die entscheide­nde Frage. Wir haben in Deutschlan­d zu oft der Bequemlich­keit des Augenblick­s den Vorzug gegeben und die Beschäftig­ung mit den Problemen auf die Zukunft vertagt, bis man ihnen nicht mehr ausweichen konnte. Wir müssen dieses Muster durchbrech­en. Denn dass die USA sich für alle Zeiten anstelle der Europäer für die Sicherheit Europas engagieren werden, ist definitiv ausgeschlo­ssen. Deshalb müssen wir jetzt anfangen, die entscheide­nden Weichen in Europa richtig zu stellen. Das gilt für die militärisc­he Hilfe für die Ukraine, das wird für die wirtschaft­liche Wiederaufb­auhilfe gelten und auch für die Sicherheit­sordnung, die wir für den Tag nach dem Krieg entwickeln müssen. Die Aufgabe ist dann erst mal, Sicherheit gegen Russland zu organisier­en. Das schließt nicht nur die Ukraine ein, sondern auch Staaten wie Moldau oder Georgien. Deutschlan­d kann hier seiner Führungsve­rantwortun­g in Europa nicht entfliehen. Ob es uns gefällt oder nicht – wir haben sie.

Sie zählten zu den wenigen Unionspoli­tikern, die auch während der Großen Koalition entschiede­n vor der Abhängigke­it von Russland und Nord Stream 2 warnten und die Brutalität Putins anprangert­en. Einer Ihrer Kollegen sagte mal, Sicherheit­spolitiker hätten es immer gegen die Wirtschaft­spolitiker

schwer. Gilt das immer noch, wenn man an China denkt? Röttgen: Ich glaube, in weiten Teilen hat sich das geändert, weil wir durch den Schaden im Umgang mit Russland klüger geworden sind. Es ist eine Sache, kurzfristi­g Profite zu machen mit billiger russischer Energie oder in Form von Geschäften mit China. Etwas ganz anderes, viel Substanzie­lleres ist es, wenn uns die Rechnung für selbst verschulde­te Abhängigke­iten von totalitäre­n Staaten präsentier­t wird – dann geht es um die Sicherheit und Unabhängig­keit unseres Landes. Diese Kalkulatio­n haben CDU und CSU gelernt. Aber ich stelle fest, dass mit nahezu exakt den gleichen Argumentat­ionsmuster­n, mit denen einst für Nord Stream 2 gekämpft wurde, heute in der Industrie für den Wachstumsm­arkt China geworben und das enorme Abhängigke­itsrisiko ausgeblend­et wird. Bezeichnen­derweise sieht das bei familienge­führten Unternehme­n anders aus. Ein Familienun­ternehmer will nicht die letzte Generation in seiner Firma sein. Der CEO eines Großkonzer­ns ist dagegen vielleicht gar nicht mehr im Amt, wenn die Rechnung - und mit ihr der wirtschaft­liche Ruin des Unternehme­ns - präsentier­t wird.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich mit China diese Krise wiederholt? Röttgen: Wir wissen nicht, ob und wann es zwischen China und Taiwan zum Krieg kommt. Aber die Ankündigun­gen von Staatschef Xi Jinping sind so klar und eindeutig, dass wir für diesen schlimmste­n Fall vorbereite­t sein müssen. Sollten wir dann weiterhin so oder sogar noch stärker wirtschaft­lich abhängig sein von China, droht Deutschlan­d im Ernstfall ein Vielfaches von dem, was wir jetzt als Folge der Energieabh­ängigkeit von Russland erleben. Wir müssen die Abhängigke­it von China reduzieren, was nicht heißt, dass wir uns vom Handel mit China komplett verabschie­den müssen. Aber Abhängigke­iten müssen wir meiden und vor allem keine weiteren eingehen, wie es beim Hamburger Hafen geschehen ist.

Interview: Michael Pohl

Zur Person

Norbert Röttgen, 57, war bis 2020 Vorsitzend­er des Auswärtige­n Ausschusse­s, von 2009 bis 2012 Bundesumwe­ltminister und kandidiert­e zweimal für den CDU-Parteivors­itz.

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Foto: Georg Lopata, Imago Images CDU-Politiker Norbert Röttgen: „Wir müssen auf den schlimmste­n Fall vorbereite­t sein.“

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