Eugen Ruge: Metropol (94)
Roman von Eugen Ruge
Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angeblichen Hochverräter zu rechtfertigen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugten Kommunisten. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwinden nach und nach …
© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg
Sie findet auf alles eine Antwort: Sie wird den Stecker der Direktleitung lösen. Sie wird darum bitten, dass der Rückruf an ihre Nummer erfolgt, weil die andere Leitung gestört sei. Sie wird, falls Stalin in einem ungünstigen Moment anruft, behaupten, Anvelt sei gerade nicht am Platz… Es ist alles ganz einfach, man muss nur entschlossen sein, entschlossen handeln… Puh, nun merkt sie doch, dass sie lange das Bett gehütet hat. Sie setzt sich auf die Bank, auf der sie mit Jule oft gesessen hat, verschnauft eine Minute.
Ihr fällt auf, wie still die Vögel sind. Sie erinnert sich an einen verregneten Tag im Frühling. Genauer gesagt, an den Tag danach. Die Pfützen standen noch auf den Wegen, aber die Vögel spektakelten aufgeregt in den Ästen, sandten ihre dringlichen Mitteilungen in die Stadt. War nicht gerade Radek verhaftet worden? Auch er im Grunde ein treuer Gefolgsmann Stalins. Kurz zuvor hatte er noch für die Iswestija einen Artikel verfasst. Ihr fällt sogar die Überschrift ein: Die trotzkistisch-sinowjewistische Faschistenbande und ihr Einpeitscher Trotzki – oder so ähnlich. Und dann die Verhaftung …
Ja, sie hat begriffen. Alles hat sie begriffen, alles hat sich gefügt. Wie klar die Luft ist im Herbst. Wie durchsichtig. Liegt es am Licht? Oder ist es eine chemische Frage?
Das nächste Zeitfenster öffnet sich nach fünf Uhr abends, denn obwohl Anvelt anfangs Witze gemacht hat über die Scharen von
Nachtarbeitern, die landesweit wachen für den Fall, dass Stalin mitten in der Nacht eine Frage hat, macht er inzwischen selbst Nachtschicht. Und das heißt, dass er sich nachmittags zu Hause ausschläft, um erst gegen Abend wiederzukommen. In der Zwischenzeit, denkt Hilde, wird sie ein zweites Mal im Kreml anrufen, und da ihre Rufnummer bereits durch den Rückruf geprüft worden ist, wird man sie durchstellen. Und wenn auch das nicht klappt, wird sie sich, wenn Stalin anruft, einfach in ihrem Zimmer einschließen und reden… Variante eins, Variante zwei, Variante drei a …
Ein bisschen aufgeregt ist sie doch. Nicht schlimm: Lampenfieber, wie vor dem Einsatz. Hol’s der Teufel. Was sie schon alles überstanden hat. Sie erinnert sich an den Überfall der Nazis auf die Laubenkolonie, wo sie sich versteckt hatten: dreißig Tote. An die Polizeieinsätze in Hamburg nach der verlorenen Schlacht. Wie sie damals über die Dächer geflohen ist, über ein Baugerüst in eine fremde Wohnung… Eine Katze hat sieben Leben, sagt man. Da hatte sie schon ein paar mehr.
An der Ecke Nikitskaja verkaufen sie immer noch Eis, eigentlich ist es nicht mehr die Jahreszeit dafür, aber sie ist so erhitzt, dass sie sich dennoch eins genehmigt: Eskimo. Wenn du Plombir verlangst, wird deine Tür plombiert. Jetzt fang nicht an zu spinnen! Die Schokoladenkruste knackt zwischen ihren Zähnen. Das Eis tut gut. Hoffentlich geht der Fahrstuhl.
Und tatsächlich – er geht! Gutes Omen. Aber an Omen glaubt sie nicht. Nein, sie glaubt an Menschen. Sie glaubt an die Tatkraft. Sie glaubt an den Plan. Sie glaubt an den ewigen Diensthabenden, der in der vierten Etage an seinem Tisch sitzt und mit steinerner Miene ihren propusk entgegennimmt. Unabwendbares Ritual, ihr würde etwas fehlen.
Sie schreitet den langen Flur ab, eine Schreibmaschine klappert. Zu ihrer Überraschung kommt das Klappern aus ihrem Zimmer. Dort sitzt die Kurotschkowa an ihrem Schreibtisch. Nanu, Vertretung? Aber wie sollte die Kurotschkowa sie vertreten, die hat keine Ahnung von nichts.
Ich bin wieder da, sagt Hilde und erwartet, dass die Kurotschkowa aufsteht und ihren Platz räumt. Stattdessen teilt die Kurotschkowa ihr mit, dass der Genosse Anvelt sie in seinem Büro erwarte.
Anvelt springt von seinem Stuhl auf, als wäre sie ein Staatsgast. Er bestellt Tee bei der Kurotschkowa, bittet Hilde, Platz zu nehmen, bietet ihr sogar Gebäck an und beginnt, irgendwas zu erklären, so gewunden und wirr, dass Hilde für einen Moment meint, er sei verrückt geworden.
Sie zündet sich eine Papirossa an, bietet auch Anvelt eine an – aber der lehnt ab. Anvelt lehnt ab!
Geht es dir nicht gut?, fragt Hilde.
Anvelt lacht seltsam und fängt sofort wieder an, davon zu sprechen, dass es ihm leidtue, dass er nichts machen könne, es sei nicht seine Entscheidung gewesen …
Ja, was denn?
Die Entlassung.
Entlassung?, fragt Hilde, begreift aber im selben Moment: ihre Entlassung.
Poljatschek.
Es ist ihr herausgerutscht. So heißt der für die Komintern zuständige NKWD-Mann.
Anvelt nickt.
Die Kurotschkowa bringt den Tee, und die Minute, bis sie das Zimmer wieder verlassen hat, genügt Hilde, um alles zu begreifen, alles neu zu sortieren. So ist das also. Man hat sie im Visier. Klar, auch sie ist eine Getreue. Hätte sie es wissen müssen?
Damit fällt das Telefonat flach, denn natürlich kann sie Stalin nicht von zu Hause anrufen. Sie wird einen Brief schreiben, weiß sie sofort. Noch ist das Spiel nicht verloren. Noch heute wird sie eine Schreibmaschine besorgen.
95. Fortsetzung folgt