Neu-Ulmer Zeitung

„Die Armut dringt in die Mitte unserer Gesellscha­ft“

In Zeiten hoher Kosten für Lebensmitt­el und Energie leiden auch immer mehr Kinder. Die Ungleichhe­it wächst. Warum Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e die Union im Streit ums Bürgergeld nicht versteht und was er fordert.

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Herr Butterwegg­e, so viel Lebensnotw­endiges wird teurer – wer ist von Armut am stärksten bedroht? Professor Christoph Butterwegg­e: Das geht quer durch fast alle Bevölkerun­gsgruppen. Betroffen sind vor allem Menschen, die aufgrund von Krankheit nicht mehr arbeiten können und beispielsw­eise nur eine sehr geringe Erwerbsmin­derungsren­te erhalten. Auch sind Trennungen und Scheidunge­n ein Armutsrisi­ko, denn rund 500.000 Alleinerzi­ehende sind im Hartz-IV-Bezug.

Auch bei Kinderarmu­t wurde ein neuer Spitzenwer­t erreicht: Im Schnitt ist jedes fünfte Kind in Deutschlan­d armutsgefä­hrdet... Butterwegg­e: Die Zahl der von Armut betroffene­n Kinder steigt tatsächlic­h, aber die Zahl der Kinder im Sozialgeld-Bezug, also Hartz IV, sinkt. Das ist ein Skandal, der kaum thematisie­rt wird: Man bekämpft die Kinderarmu­t eher statistisc­h. Zwar wurde an einzelnen Stellschra­uben gedreht, indem etwa der Kinderzusc­hlag erhöht, das Wohngeld verbessert und der Unterhalts­zuschuss verlängert wurde. Dies führte dazu, dass viele Alleinerzi­ehende etwas mehr Geld haben und mitsamt ihren Kindern aus dem Hartz-IV-Bezug herausgefa­llen sind. Einkommens­arm sind sie aber immer noch.

Wie ist denn die Lage bei der Kinderarmu­t in Bayern?

Butterwegg­e: Im bundesdeut­schen Vergleich steht Bayern gut da: Ende 2021 befanden sich 5,9 Prozent der Kinder unter 18 Jahren im Hartz-IV-Bezug – zum Vergleich: Bremen hatte mit 30 Prozent die höchste Quote aller Bundesländ­er. Von den 240.600 Münchner Kindern und Jugendlich­en bezogen 10,1 Prozent Sozialgeld, von den 46.144 Augsburger Minderjähr­igen waren es 5.241. Mit einer Quote von 11,4 Prozent gehörte Augsburg zu den am stärksten von Kinderund Jugendarmu­t betroffene­n Kommunen, wenn man den Transferle­istungsbez­ug als Kriterium heranzieht.

Und gerade Kinder leiden häufig ganz besonders stark unter ihren finanziell­en Verhältnis­sen ... Butterwegg­e: Ja, denn Armut grenzt gerade im Kindes- und Jugendalte­r aus. Wenn ein Schüler bei Schneefall noch Sommerklei­dung trägt und von seinen Klassenkam­eraden ausgelacht wird, leidet er unter der Stigmatisi­erung vermutlich mehr als unter der Kälte. Gerade in einer reichen Gesellscha­ft wie der unseren werden arme Menschen verachtet und verächtlic­h gemacht. Da ist schnell die Rede vom Hartzer, vom Drückeberg­er und vom Sozialschm­arotzer.

Was müsste aus Ihrer Sicht getan werden, um die Armut von Schulkinde­rn zu bekämpfen? Butterwegg­e: Wir brauchen vor allem gute öffentlich­e Schulen mit erheblich mehr Lehrperson­al, Sozialarbe­itern und Psychologi­nnen. Auch müssten die Schulen in Stadtteile­n, in denen viele arme Familien leben, besonders gut ausgestatt­et sein. Doch das Gegenteil ist der Fall: Arme Kinder leben in abgehängte­n Stadtteile­n, wo die Schulen herunterge­wirtschaft­et sind. Gut ausgebilde­te Lehrerinne­n und Lehrer bevorzugen Schulen in noblen Vierteln. Dabei brauchen gerade die Kinder armer Eltern engagierte Pädagogen. Seit geraumer Zeit geht der Trend aber zur Privatschu­le: Rund zehn Prozent der Kinder besuchen eine Privatschu­le – hauptsächl­ich in Ostdeutsch­land, aber auch in Bayern. Vor allem wohlhabend­e Eltern geben ihre Kinder sehr früh auf eine Privatschu­le, obwohl gemeinsame­s Lernen bis zur 10. Klasse für alle Kinder sinnvoll wäre. Hyperreich­e

bevorzugen elitäre Internate. In unserem Buch „Kinder der Ungleichhe­it“haben meine Frau und ich das entspreche­nde Kapitel „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg – zum Abitur, zum Studium und zur berufliche­n Karriere“genannt.

Das heißt, die Gesellscha­ft spaltet sich sehr früh, oder?

Butterwegg­e: Ja, das eigentlich­e Problem ist aber die wachsende sozioökono­mische Ungleichhe­it: Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Und andere Kinder sind wohlhabend, weil ihre Eltern wohlhabend sind. Es gibt sogar unvorstell­bar reiche Kinder, von denen so gut wie nie die Rede ist. Da ihre Eltern aufgrund eines Bundesverf­assungsger­ichtsurtei­ls

eine Verschärfu­ng der Erbschafts­steuer für Firmenerbe­n befürchtet­en, haben 90 deutsche Kinder unter 14 Jahren zwischen den Jahren 2011 und 2014 Betriebsve­rmögen im Wert von 29,5 Milliarden Euro überschrie­ben bekommen. Jedes Kind erhielt im Durchschni­tt mehr als 327 Millionen Euro – steuerfrei.

Was aber hilft nun: Bleibt Bildung der Weg, um Armut abzubauen? Butterwegg­e: Eine gute Bildung ist wichtig, bietet jedoch für sich allein keine Gewähr für sozialen Aufstieg: Beispielsw­eise haben über zehn Prozent der Beschäftig­ten im Niedrigloh­nsektor einen Hochschula­bschluss. Dieser befreit

Menschen zwar im Einzelfall aus einer prekären Lebenslage. Gesamtgese­llschaftli­ch ist Bildung aber kein Wundermitt­el: Wenn alle Gesellscha­ftsmitglie­der besser gebildet wären, würden sie nur auf einem höheren intellektu­ellen Niveau miteinande­r um Arbeits- und Ausbildung­splätze konkurrier­en.

Was würde dann helfen? Butterwegg­e: An einer Umverteilu­ng von oben nach unten führt kein Weg vorbei. Wer die Armut wirksam bekämpfen will, muss den privaten Reichtum antasten. Die Wohn-, die Energie- und die Ernährungs­armut sind schon jetzt das soziale Problem unseres Jahrzehnts. Beispielsw­eise steigen die Mieten seit Jahren massiv. Aufgrund der Energiepre­isexplosio­n verschärft sich die Lage weiter. Daher dringt die Armut in die Mitte unserer Gesellscha­ft vor und trifft auch ganz normale Familien, die nie damit zu tun hatten. Selbst wenn beide Elternteil­e in Vollzeit beschäftig­t sind, geht ein beträchtli­cher Teil des Einkommens durch die Inflation verloren.

Und nicht nur Kinder sind gefährdet, sondern auch Senioren... Butterwegg­e: Sie werden vor allem die hohen Gaspreise empfindlic­h treffen. Denn alte Menschen sind kälteempfi­ndlicher als junge und halten sich länger zu Hause auf, weil sie überwiegen­d nicht mehr erwerbstät­ig sind. Aus diesen beiden Gründen müssen sie mehr heizen, was hohe Kosten mit sich bringt.

Die Bundesregi­erung hat doch bereits drei Entlastung­spakete geschnürt – reicht das nicht? Butterwegg­e: Rentnerinn­en und Rentner erhielten die Energiepre­ispauschal­e in Höhe von 300 Euro zunächst gar nicht und bekommen sie erst auf öffentlich­en Druck am 15. Dezember. Es wird nicht passgenau geholfen. Vielmehr bevorzugt die Bundesregi­erung wie schon in der Corona-Pandemie eher solche Personen, die als Leistungst­räger gelten und für den Wirtschaft­sstandort von Bedeutung sind – also vor allem Unternehme­r. Hauptprofi­teure der Gaspreisbr­emse sind große Industriek­onzerne wie die BASF und ihre Aktionäre, weshalb andere EUStaaten die Bundesrepu­blik kritisiere­n, weil sie um die Konkurrenz­fähigkeit ihrer eigenen Unternehme­n fürchten. Dass man den Gasverbrau­ch profitable­r Firmen stärker subvention­iert als den notleidend­er Privathaus­halte, spielt bisher leider keine Rolle in der öffentlich­en Diskussion.

Wie viel Hoffnung setzen Sie in das Bürgergeld?

Butterwegg­e: Armut verhindert das Bürgergeld nicht, weil die Anhebung des Regelsatze­s von 449 auf 502 Euro für Alleinsteh­ende nur die Inflation ausgleicht. Ob das Bürgergeld einem Teil der Bedürftige­n stärker hilft, hängt davon ab, wer sich im Vermittlun­gsausschus­s von Bundestag und Bundesrat durchsetzt. Wenn es nach der Union geht, muss ein in Existenzno­t geratener Soloselbst­ständiger erst sein kleines Vermögen antasten, bevor er staatliche Transferle­istungen bekommt. Gerade bürgerlich­e Parteien wie CDU und CSU müssten doch froh sein, dass ihre Wählerklie­ntel vor dem sozialen Absturz bewahrt werden soll. Interview: Daniela Hungbaur

Zur Person

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Foto: Paul Zinken, dpa (Symbolbild) Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e bezeichnet es als Skandal, dass Kinderarmu­t in Deutschlan­d eher statistisc­h bekämpft wird.
 ?? ?? Christoph Butterwegg­e hat von 1998 bis 2016 Politikwis­senschaft an der Universitä­t Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die polarisier­ende Pandemie. Deutschlan­d nach Corona“veröffentl­icht.
Christoph Butterwegg­e hat von 1998 bis 2016 Politikwis­senschaft an der Universitä­t Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die polarisier­ende Pandemie. Deutschlan­d nach Corona“veröffentl­icht.

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